Zerreißprobe

Zerreißprobe - Gedanken von Generalvikar Jakob Bürgler zum Karfreitag. Ein Beitrag für den Tiroler Sonntag in der Karwoche.

 

Bittere Stunden prägen den Abend vor dem Leiden Jesu. Über den Jüngern hängen dunkle Wolken, voll Bedrohung und Angst. Was werden die kommenden Tage bringen? Wird alles noch einmal gut ausgehen?

Judas Iskariot reißt ein Loch in die Gemeinschaft. Er „wechselt die Seiten“ und ver-rät Jesus an die Soldaten. Petrus fürchtet um sein eigenes Leben und verleugnet seinen Meister. Angesichts der drohenden Gefahr nehmen die Jünger Reißaus, sie flüchten und zerstreuen sich. Der Herr bleibt allein in seiner Not. Die Schar der Jünger erlebt eine fürchterliche Zerreißprobe. Alles bricht auseinander. In die Stunde der Hingabe des Herrn gehört auch diese menschliche Zerrissenheit. Sie ist Teil der Dunkelheit, die der Herr aus Liebe zu den Menschen für alle Menschen trägt. Die Zerrissenheit, die letztendlich zur Zerreißprobe wird, führt tief in die Abgründe des menschlichen Herzens.

Es ist ein unscheinbares Bild, das für mich diese innere und äußere Zerrissenheit ausdrückt, ein Bild, das uns die Evangelisten in ihren Berichten vom Leiden des Herrn überliefern. „Sie warfen das Los und verteilten seine Kleider unter sich und gaben jedem, was ihm zufiel.“ (Mk 15,24) Und bei Johannes heißt es: „Nachdem die Soldaten Jesus ans Kreuz geschlagen hatten, nahmen sie seine Kleider und machten vier Teile daraus, für jeden Soldaten einen.“ (Joh 19,23) Die Soldaten zerreißen das Gewand Jesu. Sie reißen es in Stücke und zerstören es. Es hat zwar jeder einen Teil in der Hand, aber das Gewand ist zerstört. Johannes erzählt dazu noch von einer Besonderheit: „Sie nahmen auch sein Untergewand, das von oben her ganz durchgewebt und ohne Naht war. Sie sagten zueinander: Wir wollen es nicht zerteilen, sondern darum losen, wem es gehören soll.“ (Joh 19,23-24) Nicht nur zerrissen wird also. Es wird auch noch „verscherbelt“, was kostbar ist.

Dieses Bild vom zerrissenen und verlosten Kleid Jesu geht mir sehr nahe. Denke ich doch an die Aussage des Heiligen Paulus, wonach jeder, der zu Christus gehört, SEIN Kleid angezogen hat. „Ihr seid alle durch den Glauben Söhne Gottes in Christus Jesus. Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus als Gewand angelegt.“ (Gal 3,26-27) Als Christinnen und Christen tragen wir das Kleid Jesu. Wir sind als Gemeinschaft in dieses Kleid „eingehüllt“. Und wie damals ist auch heute die Gefahr groß, dass dieses Kleid zerrissen und in Teile zerfetzt wird. Niemand hat dann das Ganze, aber jeder glaubt, mit seinem Teil das Ganze und vor allem recht zu haben.

Wenn wir zu Ostern die Hingabe Jesu feiern, dann ist es die eindringliche Bitte des Herrn selbst, sein kostbares Gewand nicht zu zerstören. Wer Ostern feiert und gleichzeitig die Zerreißprobe antreibt, der versündigt sich am Kleid der Gemeinschaft Jesu. Dass die heilsamen und verbindenden Kräfte des Auferstandenen unsere Kirche vor Schaden bewahren, das erbitte ich für dieses Osterfest!

Jakob Bürgler, Generalvikar der Diözese Innsbruck, 
ist Herausgeber der Kirchenzeitung Tiroler Sonntag. 

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