Bischof Glettler in Syrien: Mehr Hilfe für Bevölkerung notwendig

Bischof Hermann Glettler war vergangene Woche gemeinsam mit Caritas-Auslandshilfechef Christoph Schweifer auf Lokalaugenschein in Homs und Aleppo. "Wir dürfen Syrien im Elend nicht vergessen", so Glettler in einem Interview mit der Nachrichtenagentur KATHPRESS.

Der Innsbrucker Bischof Hermann Glettler war vergangene Woche gemeinsam mit Caritas-Auslandshilfechef Christoph Schweifer zu einem Lokalaugenschein in Syrien. In den Städten Homs und Aleppo besuchten sie kirchliche Einrichtungen und Hilfsprogramme für die Not leidende Zivilbevölkerung. "Wir dürfen Syrien im Elend nicht vergessen!", rief Glettler am Mittwoch in einem Interview mit der Nachrichtenagentur "Kathpress" zur verstärkten Hilfe für die Menschen vor Ort auf. Er sprach von "apokalyptischen Eindrücken" und appellierte an die politisch Verantwortlichen in Österreich, gerade bei den Mitteln für internationale Nothilfe, Aufbauprogramme und Entwicklungszusammenarbeit nicht zu sparen.
Am stärksten präsent seien bei ihm nach wie vor die Bilder von den menschenleeren, komplett ausgebombten und niedergeschossenen Dörfern, sagte der Bischof. In Aleppo und Homs seien zudem ganze Stadtteile nur mehr Trümmerfelder und "geisterhafte Ruinen". Glettler: "Diese Bilder sind schwer verdaulich. Aber ich habe auch deutlich Menschen vor Augen, die sich trotz allem und mit einer unglaublichen Leidenschaft für die am stärksten Leidenden einsetzen."
Die am Krieg beteiligten und auch davon profitierenden Mächte würden sich allerdings in keiner Weise für die Mehrheit der Bevölkerung interessieren. Eine halbe Million Tote und sieben Millionen Menschen, die Syrien verlassen haben, zählten für diese offenbar nichts. Er bete für eine "umfassende Versöhnung" in Syrien, so der Bischof weiter. Eine annähernd funktionierende Demokratie werde es in absehbarer Zeit wohl nicht geben. Eine gewisse Stabilität und auch einen gewissen Schutz der Christen vor dem gänzlichen "Aufgebrieben-werden" vielleicht schon. Notgedrungenerweise müssten deshalb viele ihre Resthoffnung auf Präsident Baschar al-Assad setzen, "weil die Gefahr der extremistischen Gruppen auch zu einer tödlichen Bedrohung für das Land wurde". Auch wenn der IS-Terror überwunden scheine, sei der von Saudi-Arabien und Katar geförderte "Feldzug der islamistischen Milizen" immer noch ein reales Schreckensgespenst. Kriegsverbrechen seien freilich von allen Seiten begangen worden. 

"Vertrauen zwischen Religionen zerstört"
Die Christen seien zwar zahlenmäßig nur mehr sehr wenige, würden aber als Minderheit in einem größtenteils muslimischen Land eine ganz wichtige vermittelnde Rolle spielen, zeigte sich Bischof Glettler überzeugt: "Das vor dem Krieg in Syrien selbstverständliche Vertrauen zwischen verschiedenen Ethnien und Religionen ist nachhaltig zerstört worden. Es muss trotz der spürbaren Resignation aber wieder aufgebaut werden." Die meisten Kirchen zeichne ein beeindruckendes soziales Engagement aus, das allen Notleidenden zugute komme, Christen wie auch Muslimen. In besonderer Weise würdigte der Bischof das humanitäre aber auch spirituelle Engagement der Jesuiten und Franziskaner vor Ort.
Die kirchlich Verantwortlichen versuchten zudem mit allen Mitteln, die christlichen Familien zu halten. "Man unterstützt sie mit Lebensmittelspenden und Hilfestellungen zum notdürftigen Sanieren der beschädigten Wohnungen. Durch das Zusammenhalten der Gemeinschaft und durch intensive Gottesdienste versucht man Identität zu stärken." Durch die Vielzahl an christlichen Konfessionen im Land gebe es eine Praxis des Zusammenlebens in Verschiedenheit. Glettler: "Das ist eine überlebensnotwendige Erfahrung, die für die gesamte Gesellschaft, wenn sie sich wieder aufrichten möchte, von entscheidender Bedeutung sein könnte." 
Glettler und Schweifer trafen bei ihrer Syrien-Reise u.a. mit dem chaldäischen Bischof von Aleppo, Antoine Audo, dem griechisch-katholische melkitischen Erzbischof von Aleppo, Jean-Clement Jeanbart, dem Apostolische Vikar für die Katholiken des lateinischen Ritus in Aleppo, Bischof Georges Abou Khazen, und dem melkitischen Erzbischof von Homs und Caritas-Präsidenten Jean-Abdo Arbachl zusammen. 

Glettler-Appell: "Jetzt nicht wegschauen"
Gerade in der gegenwärtigen kritischen Phase, wo sich für Syrien entscheidet, ob die Mehrheit der verbliebenen Bevölkerung noch an eine positive Zukunft glauben soll, seien finanzielle und logistische Hilfestellungen zur Unterstützung verlässlicher humanitärer Partner vor Ort ganz entscheidend. Mittel für internationale Nothilfe, Aufbauprogramme und Entwicklungszusammenarbeit dürften nicht gekürzt werden, so der Appell des Bischofs an die politisch Verantwortlichen.
Wenn es gelingt, die in Syrien operativ tätigen Organisationen - Orden oder auch die Caritas - in ihrer Arbeit zu stützen und noch effektiver zu machen, "kann dem ganzen Land eine kleine, aber reale Hoffnung geschenkt werden". Eines sei klar: "Jetzt nicht wegschauen, auch wenn es weh tut!", so der Bischof. Und hinsichtlich der christlichen Minderheit in der Region fügte er hinzu: "Die Christen des Nahen Osten erleben in diesen Jahren scheinbar endlose Karfreitage und Karsamstage. Die Vorsehung des lebendigen Gottes wird ihnen und dem ganzen Land hoffentlich auch wieder Zukunft schenken!" 

Schweifer: Hilfe möglich
Caritas-Auslandshilfechef Christoph Schweifer betonte im "Kathpress"-Interview, dass Hilfe möglich sei und auch ankomme. Er verwies u.a. auf die Suppenküche des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes (JRS) in Aleppo, wo pro Tag 7.500 Mahlzeiten ausgegeben würden. Für viele Menschen sei das die einzige Mahlzeit am Tag. In einem Sozialzentrum der Jesuiten würden weiters etwa Kinder betreut, die durch den Krieg oft über Jahre keine Schule besuchen konnten. Mit diesen werde das Versäumte nachgeholt. Unzählige Kinder seien zudem schwer traumatisiert und bräuchten entsprechende psychologische Hilfe. Die Jesuiten werden bei ihrer Arbeit u.a. von der Caritas unterstützt. Die Caritas hilft auch beispielsweise in Homs rund 12.000 Familien auf unterschiedliche Weise; etwa durch Gutscheine für Lebensmittel oder bei der notdürftigen Reparatur der Häuser und Wohnungen.
Auch Schweifer zeigte sich erschüttert über das Ausmaß der Zerstörung und die Not der Menschen. Insofern sei es kaum zu glauben, dass immer noch so viele Syrer nicht weg wollten, immer noch an ihr Land glaubten und dieses wieder aufbauen wollten. Doch dafür bräuchten sie Unterstützung aus dem Ausland, so Schweifer. 

Spendenmöglichkeiten und Infos: www.caritas.at/syrien

Ein Bericht der Katholischen Nachrichtenagentur KATHPRESS

Bischof Glettler in Syrien: Mehr Hilfe für Bevölkerung notwendig

Das Interview im Wortlaut

Syrien im Elend nicht vergessen! 

Interview mit Bischof Hermann Glettler, Eindrücke von der Syrienreise mit der Caritas Österreich, Auslandshilfe vom 17. bis 24. März 2018 

Was war Ihre Motivation, nach Syrien zu reisen?  

Syrien ist mir durch die große Anzahl von Fluchtreisenden näher gekommen, die auch in Graz gelandet sind. In meiner ehemaligen Pfarre haben wir versucht, einige aufzunehmen. Seit 2015 hat ein Mann aus Damaskus, der für deutschsprachige Gruppen im Nahen Osten Kulturführungen organisiert hat, in meinem Pfarrhof gelebt. Er hat mir viel von seiner wunderbaren Heimat Syrien erzählt und von allem berichtet, was er auf dramatische Weise verloren hat. Zugleich habe ich seine Tränen und Wut erlebt, dass dieses Land durch den andauernden Bürgerkrieg konsequent vernichtet wird. Irgendwann wollte ich dieser gefühlten Ohnmacht etwas entgegen halten und mir zumindest ein persönliches Bild machen. Ich habe sofort zugestimmt, als ich von der Caritas Auslandshilfe zu dieser Projektreise eingeladen wurde. Das Ziel unserer Reise war der Besuch von Caritaseinrichtungen sowohl in Beirut, wo unsere Reise ihren Ausgangspunkt und Abschluss hatte, als auch in den großteils zerstörten, aber besuchbaren Städten Aleppo und Homs. Begleitet und in Sicherheitsfragen gecoacht wurden wir durch Vertreter der Caritas Schweiz.

Beschreiben Sie bitte kurz ihre stärksten Eindrücke von Ihrer Reise nach Syrien? Was hat Sie am meisten bewegt? 

Das größte Leid muss die Zivilbevölkerung ertragen. Das konnten wir mit eigenen Augen und durch Besuche in Familien sehen. Die am Krieg beteiligten und auch davon profitierenden Mächte interessieren sich in keiner Weise für die Mehrheit der Bevölkerung. Was zählen schon ein halbe Million Tote und sieben Millionen, die das Land verlassen haben? Kriegsmaschinerie, Propaganda und Geheimdienst laufen weiterhin auf Hochtouren. Am stärksten sind die Bilder von den menschenleeren, komplett ausgebombten und niedergeschossenen Dörfern. Es sind apokalyptische Eindrücke. Speziell in den Städten Aleppo und Homs, wo wir uns humanitäre Projekte angeschaut haben, sind ganze Stadtteile nur mehr Trümmerfelder, geisterhafte Ruinen. Diese Bilder sind schwer verdaulich. Aber ich habe auch deutlich Menschen vor Augen, die trotz allem – und mit einer unglaublichen Leidenschaft, sich wieder für die am stärksten Leidenden einsetzen. Sie betreiben große Suppenküchen, versuchen mühsam eine einfache medizinische Versorgung aufzubauen und sammeln Kinder und Jugendliche, um sie trotz der schwerwiegenden Traumatisierungen auf die Schule vorzubereiten. 

Wie sehen Sie die Situation der Christen vor Ort? Hat die kleine Minderheit, die zwischen allen Stühlen sitzt, eine Zukunftsperspektive im Land? 

Die Christen sind zahlenmäßig fast aufgerieben. Aber trotzdem spielen sie als Minderheit in einem größtenteils muslimischen Land eine ganz wichtige vermittelnde Rolle. Das vor dem Krieg in Syrien selbstverständliche Vertrauen zwischen verschiedenen Ethnien und Religionen ist nachhaltig zerstört worden. Es muss trotz der spürbaren Resignation aber wieder aufgebaut werden. Ein beeindruckendes soziales Engagement zeichnet die meisten Kirchen aus. Das ist ein wertvolles Zeugnis einer Minorität – gerade auch dadurch, dass man sich nicht nur um die Notleidenden der eigenen Gemeinschaft kümmert, sondern die humanitären Dienste allen anbietet, ob Christen oder Muslime. Besonders stark haben wir in dieser Hinsicht das Engagement der Jesuiten (JRS) in Aleppo erlebt. Wir haben in mindestens zwei Kirchengemeinden auch eine bemerkenswert engagierte Jugend gesehen und auch drei Ordensgemeinschaften besuchen können.

Wollen die Syrer überhaupt in ihrem Land bleiben oder würden die meisten lieber in den Westen gehen, wenn Sie die Möglichkeit hätten? – Ihre Erfahrungen? 

Wir haben von Vertretern aller christlichen Kirchen, besonders von den Bischöfen mehrmals und intensiv die Sorge gehört, dass ihre Gemeinschaften durch die Auswanderung ihrer Mitglieder ernsthaft bedroht sind. Getrieben von dieser verständlichen Angst, versuchen sie mit allen Mitteln die christlichen Familien zu halten. Man unterstützt sie mit Lebensmittelspenden und Hilfestellungen zum notdürftigen Sanieren der beschädigten Wohnungen. Durch das Zusammenhalten der Gemeinschaft und durch intensive Gottesdienste versucht man Identität zu stärken. Ganz intensiv ist in dieser Hinsicht das Engagement der kleinen Gemeinschaft der Franziskaner in Aleppo.

Der Krieg ist noch gar nicht aus, es gibt so viel Hass, Zerstörung, Tod und Elens im Land. Halten Sie es realistisch für möglich, dass es in Syrien zu einer umfassenden Versöhnung kommen kann? Sind hier die Kirchen besonders gefragt? 

Ob und wann es in Syrien zu einer umfassenden Versöhnung kommen kann, lässt sich nicht sagen. Natürlich muss man alles daran setzen und vor allem auch für dieses Wunder beten. Auch wenn Präsident Assad mit der militärischen Unterstützung von Russland, Türkei und Iran bald alles zur Ruhe gebombt haben wird, bleibt eine Bitterkeit über diesen vermeintlichen Sieg. Eine annähernd funktionierende Demokratie wird es in absehbarer Zeit wohl nicht geben. Eine gewisse Stabilität und auch ein gewisser Schutz der Christen vor einem gänzlichen Aufgebrieben-werden vielleicht schon. Notgedrungener Weise müssen deshalb viele ihre Resthoffnung auf Assad setzen, weil die Gefahr der extremistischen Gruppen auch zu einer tödlichen Bedrohung für das Land wurde. Kriegsverbrechen wurden von allen Seiten begangen. Auch wenn der IS Terror überwunden scheint, ist der von den Saudis und Katar geförderte Feldzug der islamistischen Milizen immer noch ein reales Schreckensgespenst. Was ist bei dieser fast dämonischen Verwirrung die Rolle der Kirchen? Durch die unterschiedlichen Konfessionen – darunter sechs verschiedene „katholische“ Kirchen, die bis in die ersten Jahrhunderte des Christentums zurückreichen – gibt es eine Praxis des Zusammenlebens in Verschiedenheit. Das ist eine überlebensnotwendige Erfahrung, die für die gesamte Gesellschaft, wenn sie sich wieder aufrichten möchte, von entscheidender Bedeutung sein könnte. Die Christen des Nahen Osten erleben in diesen Jahren scheinbar endlose Karfreitage und Karsamstage. Die Vorsehung des lebendigen Gottes wird ihnen und dem ganzen Land hoffentlich auch wieder Zukunft schenken!

Ihr Appell an die Verantwortlichen in Kirche und Politik in Österreich bzw. auch an alle Österreicher? 

Wir dürfen Syrien – auch angesichts der verstörenden Bilder, die leider schon mehr Aversion als empathische Gefühle auslösen – im Elend nicht vergessen! Gerade in dieser kritischen Phase, wo sich für Syrien entscheidet, ob die Mehrheit der verbliebenen Bevölkerung noch an eine positive Zukunft glauben soll, sind finanzielle und logistische Hilfestellungen zur Unterstützung verlässlicher humanitärer Partner vor Ort ganz entscheidend. Mittel für internationale Nothilfe, Aufbauprogramme und Entwicklungszusammenarbeit nicht kürzen! Von Seiten der Kirche darf ich neben den schon erwähnten Ordensgemeinschaften vor allem nochmals die Caritas nennen, die vom professionellen Engagement weniger getragen wird. Wenn es gelingt, die in Syrien operativ tätigen Organisationen in ihrer Arbeit zu stützen und noch effektiver zu machen, kann dem ganzen Land eine kleine, aber reale Hoffnung geschenkt werden. Jetzt nicht wegschauen, auch wenn es weh tut!