Aus einer anderen Fülle leben
ZACK, ZACK, ZACK! Es war eine eindeutige Entscheidung: Zum Unspruch des Jahres 2019 wurde die Aussage des ehemaligen Vizekanzlers mit großer Mehrheit gewählt. Er hat mit dieser originellen Kombination von Urlauten das schnelle Auswechseln unliebsamer Journalisten nach der Übernahme der Kronen Zeitung durch einen Oligarchen beschrieben. Mit Recht hat er dafür die politische Rechnung bezahlt und auch ein verdientes Maß an Häme eingefahren. Für unseren Jahresrückblick interessiert mich nicht die „bsoffene Gschicht“ (Unwort des Jahres), wie „Ibiza“ (Wort des Jahres) verharmlosend bezeichnet wurde. Fragen wir zeitdiagnostisch nach der Haltung dahinter. Ich behaupte, dass durch den Unspruch von uns allen einiges zum Vorschein kommt. Frage: Was wollen wir dem ZACK, ZACK, ZACK im Neuen Jahr entgegenhalten? Mehr Behutsamkeit?
1. Eine Zeit der Getriebenen und Empörten
Nach Hartmut Rosa, dem Soziologen aus Jena, sind drei Beschleunigungskrisen signifikant für unsere Zeit: Die Öko-Krise, die Demokratiekrise und die Burn-Out-Krise. Die entscheidende Ursache aller drei Phänomene ist eine zu hohe Geschwindigkeit, in der sich unser Leben abspielt. Durch das unheilvolle Tempo werden wir uns selbst und einander fremd. Wir schaffen nicht, wovon wir eigentlich träumen, nämlich eine heilsame Entschleunigung. Ausgepowert, innerlich leer und antriebslos fühlen sich Menschen, die an Burn-Out, an der typischen Ermüdungserkrankung unserer Zeit leiden. Das gilt nicht für alle. Es gibt auch Menschen, denen man etwas mehr Tempo, mehr Pfeffer unter dem Hintern wünschen würde. Vor allem reicht es nicht aus, sich in sicherer Distanz über den Zustand der Welt zu empören. Auch die Öko-Krise, die im Jahr 2019 zum alles bestimmenden Thema wurde, ist Folge einer Lebensweise, die unersättlich geworden ist: Immer schneller und immer mehr!
Dank der „Fridays for Future“ Bewegung hat sich ein globales Bewusstsein geschaffen, dass es höchste Zeit ist, vom Reden ins Tun zu kommen, von den Absichtserklärungen zu konkretem politischen Handeln. Mit Recht drängen uns die jungen Leute zu einer nachhaltigen Veränderung unserer Lebensweise. Die individuelle Verantwortung, der sich niemand von uns entziehen darf, muss durch wirtschaftliche und politische Entscheidungen auf allen Ebenen entsprochen werden. Wir dürfen den zukünftigen Generationen nicht durch unsere Produktions- und Konsumgier den Lebenshahn abdrehen. Die Schöpfung Gottes ein Geschenk und nicht ein Beutegut. Eine weiter auszubauende „Green Technology“ kann eine Hilfe zur Lösung der anstehenden Probleme sein, aber ist kein Allheilmittel. Ebenso besteht die Gefahr, dass die voranschreitende Digitalisierung zusätzliche Verlierer produziert. Dem ZACK, ZACK, ZACK des unverantwortlichen Zugriffs auf alle noch vorhandenen Ressourcen müssen wir etwas entgegenhalten. Mehr Achtsamkeit!
Ebenso signifikant ist weltweit die Krise der Demokratie. Beängstigend zugenommen hat im letzten Jahr die Anzahl der Unruhen und Demonstrationen in zahlreichen Metropolen. Nicht selten wurden sie von gewalttätigen Ausschreitungen begleitet. Oftmals waren die Auslöser vorenthaltene Rechte, soziale Probleme und Menschenrechtsverletzungen, die Massen auf die Straßen getrieben haben. Ich denke an die andauernden Protestkundgebungen in Hongkong, in Paris und in einigen Metropolen Lateinamerikas. In anderen Fällen sind es Kriege, Terror und Flüchtlingswellen, die Großstädte in Unruhe versetzen. Ich denke vor allem an Beirut und Bagdad. Höchst bedenklich ist gleichzeitig die wachsende Zahl der politischen Machthaber, die sich mit einem neuen autokratischen Stil durchsetzen – fast unnötig, deren Namen zu nennen: Trump, Putin, Kim, Erdogan, Bolsonaro, Salvini & Co. Mit einem brutalen ZACK, ZACK, ZACK setzen sie sich über eine ökologische und soziale Verantwortung hinweg, ignorieren humanitäre Verpflichtungen und bedienen neben den eigenen auch die Interessen derer, die sie an die Macht gespült haben. Widerstand ist nötig!
2. Aus einer anderen Fülle leben lernen
Wie ist es möglich, aus der Haltung der Getriebenen und Empörten auszusteigen? Der weihnachtliche Perspektivenwechsel kann dazu eine Hilfe sein: „Aus seiner Fülle haben wir alle empfangen – Gnade über Gnade.“ Fülle von Nähe, Zuwendung und Geborgenheit, Fülle von Frieden und Versöhnung! Diese Worte aus dem Weihnachtsprolog des Evangelisten Johannes zeigen eine Alternative zu einem gierigen, nimmersatten Griff nach dem Leben. Wir alle sind Beschenkte! Haben wir diesen Perspektivenwechsel schon vollzogen? In der Ärmlichkeit des Stalls von Betlehem begegnen wir dem eigentlichen Gastgeber des Lebens. Jesus ist sein Name. In der Gestalt eines zeitlich und räumlich begrenzten Menschen schenkt sich Gott selbst. Er schenkt Leben in einer neuen Qualität und Intensität – befreit vom Wahn der Machbarkeit und eingebildeten Perfektion. Da liegt ein Kind! Wer es wahrnimmt, wird das Wesentliche entdecken: Es geht zuerst und zuletzt um Begegnung und Beziehung. Darin liegt der Himmel, nicht im ZACK, ZACK, ZACK.
„Papa wart, ich muss noch schnell ein Email abschicken.“ Diese Ansage stammt von einem dreijährigen Kind, das beim Anziehen der Schuhe trödelt und den nervös drängenden Papa vertrösten möchte. Ein leitender Mitarbeiter der KPH hat mir diese Anekdote erzählt. Die kleine Tochter hat ihm seine eigene Unruhe gespiegelt. Es gibt eine Fülle von Zeit. Sie liegt täglich als Geschenk vor uns. Oftmals reicht es, die Perspektive zu ändern. Zeit, die wir einander schenken, ist nie vergeudete Zeit. Es ist geteilte und verdoppelte Zeit. Ich denke an eine alte Dame an meiner ersten Pfarrstelle in der Obersteiermark. Fräulein Luise war eine zierliche alte Frau, unscheinbar in ihrem Auftreten und doch so geistvoll. Sie hat sich zur Gewohnheit gemacht, mindestens dreimal pro Woche jemanden zu Kaffee und Kuchen in die Konditorei einzuladen. Unzähligen Menschen hat sie damit Freude bereitet. Bei ihrem Begräbnis war die Stadt auf den Beinen. Fräulein Luise hat zum Beziehungs-Wohlstand in unserer Bezirksstadt beigetragen. Angesichts der epidemischen Ausbreitung der Volkskrankheit Einsamkeit forcieren wir mit der Caritas einen „Pakt gegen die Einsamkeit“, der von allen zivilgesellschaftlichen Kräften mitgetragen sein soll.
Am Welternährungstag, 16. Oktober 2019, wurde folgender Vergleich veröffentlicht: 820 Millionen Hungernden auf unserem Planet Erde stehen fast 700 Millionen übergewichtige Menschen und Opfer falscher Essgewohnheiten gegenüber. Dieser Vergleich muss uns Wohlstandsverwöhnten zu denken geben. Welche Alternativen gibt es zu diesem Ungleichgewicht? Was heißt in dieser Fragestellung: Leben aus einer anderen Fülle? Mit Appellen zu mehr Verteilungs-Gerechtigkeit und ästhetischen Verschlankungskuren wird es wohl nicht getan sein. Sich mit allem möglichen Zeug vollzustopfen, ist wohl die Folge von einem tief empfundenen Mangel. Hand aufs Herz: Ohne einen realen Verzicht auf diverse Annehmlichkeiten aus der materiellen Wohlstands-Fülle wird es zukünftig nicht gehen. Verzicht wird uns allen heilsam wehtun müssen. Auch hier hilft ein Perspektivenwechsel. Leben aus einer anderen Fülle! Wer sich geliebt weiß, bejaht und getragen, wird sich leichter für ein maßvolles Leben entscheiden können. Ein einfaches und bescheidenes Leben trägt inmitten einer unheilvollen Übersättigung zur Entlastung bei – nicht nur des Köpers, sondern auch der Seele. Außerdem erleichtert ein einfacher Lebensstil die solidarische Verbundenheit mit den Armen unserer Zeit.
3. Mit Zuversicht die nächsten Schritte tun
Mit welcher Haltung wollen wir nun in das nächste Jahr gehen? Sebastião Salgado hat bei Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2019 für die Mühe um ein neues Zusammenleben plädiert: „Meine einzige Hoffnung ist, dass wir, als Individuen und als Staaten, in der Lage sind, über den derzeitigen Stand der Menschheit zu reflektieren und zu verstehen, dass wir ein tieferes Gefühl für Verantwortung brauchen. Irgendwie müssen wir neue Mittel und Wege des Zusammenlebens finden.“ Wenn wir aus einer anderen Fülle leben, können wir Aufmerksamkeit und Kreativität in den Aufbau einer soliden sozialen Zusammengehörigkeit investieren. Darin liegt ein Schlüssel für die Zukunft. Die Ankündigung von einem eigenen Ministerium für Integration ist ein positives Signal. Zusammenleben muss immer neu gelernt werden – es braucht den Willen zur Begegnung und in allem Respekt und Toleranz, selbstverständlich auch die Freiheit der Medien – alles andere wäre ZACK, ZACK, ZACK. Gott wird uns die nötige Kraft, Kreativität und Herzensenergie für einen neuen Stil des Zusammenlebens geben.
Sich Zeit nehmen gilt auch als Voraussetzung für eine gute Politik. Ich zitiere aus der Dankesrede von Manfred Perterer, Chefredakteur der „Salzburger Nachrichten“, anlässlich der Verleihung des Kurt-Vorhofer-Preises: „Die Demokratie ist eine langsame Angelegenheit. Der Ausgleich der Interessen ist mühsam, das Ringen um Kompromisse zäh. So etwas dauert. Die sich immer schneller drehende Welt verzeiht kein längeres Nachdenken. Alles muss schnell gehen, auch auf die Gefahr hin, dass immer öfter falsch entschieden wird. Geduld ist ein knappes Gut.“In diesen Tagen wird das neue Regierungsteam gebildet. Man hat den Eindruck, dass um gute Basisvereinbarungen gerungen wurde. Tragen wir diesen Prozess bis zu seinem Abschluss in unserem Gebet mit. Es geht um Entscheidungen, die da Gemeinwohl unseres Landes betreffen – es geht nicht um das Wohlergehen von Parteien, sondern um den Aufbau einer Gesellschaft, die niemanden auf die Verliererstraße drängt. Es geht um die Ermöglichung von Mitbestimmung, Teilhabe und sinngebender Beschäftigung.
Auch für uns als Kirche ist der einzige zukunftsweisende Weg jener des behutsamen und oft mühsamen Dialogs. Das gilt für alle Veränderungsprozesse, in denen wir uns befinden. Wir dürfen nicht hetzen, aber auch nicht stehenbleiben. Mit Mut vorangehen – dazu hat uns Papst Franziskus mehrfach im vergangen Jahr ermutigt. Er wird nicht müde, die Gläubigen aller Religionen zu einem aktiven Engagement für unsere Welt aufzufordern. Ich zitiere aus seiner Rede am 4.2.2019 bei einer interreligiösen Konferenz in Abu Dhabi unter dem Motto "Human Fraternity": „Es gibt keine Alternative: Entweder wir bauen die Zukunft gemeinsam oder es gibt keine Zukunft. Vor allem die Religionen können nicht auf die dringende Aufgabe verzichten, Brücken zwischen Völkern und Kulturen zu bauen. Die Zeit ist gekommen, dass die Religionen sich aktiver, mutig, kühn und aufrichtig, dafür einsetzen, der Menschheitsfamilie zu helfen, ihre Fähigkeit zur Versöhnung, ihre Vision der Hoffnung und konkrete Wege zum Frieden weiterzuentwickeln."
Lassen Sie mich abschließend aus dem viel gesungenen und Trost spendenden Lied zitieren, das der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer vor genau 75 Jahren, am 19. Dezember 1944, in einem Berliner Gestapo-Gefängnis geschrieben hat. Enthalten sind die sieben Strophen des Gedichts in einem Brief an seine Verlobte, Maria von Wedemeyer: „Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist mit uns am Abend und am Morgen – und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“ Dieser Zuversicht und Segensgewissheit schließe ich mich an. Gott wird mit uns sein, wenn wir die kleinen und großen Schritte tun, die seinem Willen entsprechen – mit Sicherheit viel behutsamer und aufmerksamer als in der Mentalität des ZACK, ZACK, ZACK. Und übrigens lautet der Spruch des Jahres 2019, von unserem Bundespräsidenten Van der Bellen in einer Zeit politischer und gesellschaftlicher Turbulenz geäußert: „Nur Mut und etwas Zuversicht, wir kriegen das schon hin.“