Zugesperrte Schulen sind Verschwendung

Ferienbeginn – die Schüler freuen sich auf freie Tage, aber viele Eltern stehen vor dem Problem, nicht zwei Monate lang für ihre Kinder da sein zu können. Der Lehrer und Autor Nikolaus „Niki“ Glattauer hat eine Idee, wie man das ändern könnte. Was er von der gemeinsamen Schule, die es laut beschlossener Schulreform in Modellregionen geben soll, und vom Religionsunterricht hält, verrät er im Interview mit der Kirchenzeitung.

Mit Ferienbeginn schließen die Schulen für zwei Monate ihre Pforten. Sie kritisieren das – aber was genau wäre die Alternative? 

Niki Glattauer: Es ist eine Ressourcenverschwendung, wenn Tausende Schulen im Land zusperren, während viele Schülerinnen und Schüler nicht von ihren Eltern zwei Monate lang betreut werden können. Heute bieten die Schulen oft Freizeitanlagen wie Sportplätze oder sogar Schwimmbäder. Ich stelle mir vor, dass teilweise Lehrpersonen, aber auch Freizeitpädagogen für die Kinder in den Ferien in den Schulen da sind und sich in einer lockeren Art um sie kümmern. Studierende könnten so Praxis im Umgang mit Schülern sammeln. Wo es notwendig ist, könnte Nachhilfe angeboten werden. Natürlich sollten die Kinder nicht gezwungen werden, ihre Ferien in der Schule zu verbringen. Aber viele würden es gerne tun.

Ein „Mehr an Schule“ bedeutet es auch, dass Sie für die Ganztagesschule plädieren, die auch ein Teil der Schulreform ist. Was ist der Vorteil? 

Glattauer: Ich bin nicht für eine verpflichtende Ganztagesschule: Wo am Nachmittag Eltern da sind, die den Kindern gemeinsame Freizeitgestaltung sowie Hilfe beim Lernen bieten können, soll man das nicht zerstören. Aber gerade im städtischen Bereich sind immer mehr Kinder darauf angewiesen, dass sie am Nachmittag eine außerfamiliäre Betreuung bekommen. In solchen Fällen sollte man seitens der Schule sagen können: „Du solltest am Nachmittag dableiben, damit dir jemand bei der Hausübung hilft.“ Ohne Ganztagesschule wird die Bildungsungerechtigkeit verschärft. Denn Schüler, um die sich niemand aus der Familie kümmern kann, sind derzeit benachteiligt.

Die gemeinsame Schule aller Schüler bis zum 14. oder 15. Lebensjahr nannte ein Politiker „sozialistische Gleichmacherei“. Was sagen Sie dazu? 

Glattauer: Als Vater und Lehrer komme ich zu dem Schluss, dass es gescheit ist, Kinder nicht mit neun Jahren zwischen Gymnasium und Neuer Mittelschule zu teilen. Am Ende der Volksschule lässt sich nicht sagen, ob ein Kind nicht noch ein bestimmtes Talent entwickelt. In den zehn Jahren zwischen den letzten Kindergartenjahren und dem 15. Lebensjahr sollten Kinder möglichst druck- und auslesefrei unterrichtet werden. Das sollte so individualisiert wie möglich geschehen und danach bin ich auch für Differenzierung. Denn dann kann der Schüler entscheiden: Bin ich jemand, der in einer Oberstufe weitermacht, eine berufsbildende Schule besucht oder ein schönes Handwerk erlernt. Das wäre auch gut für Kinder, die derzeit in ein Gymnasium gepfercht werden, ohne dort hinzugehören. Denn für Eltern läuft ja ein Schwarzweißfilm ab: „Ich muss alles tun, damit mein Kind aufs Gymnasium geht und nicht in der Neuen Mittelschule landet.“ So wird die frühere Hauptschule zur Restschule.

Auf den Ruf nach mehr Schule reagieren manche damit, auf ihr Elternrecht auf vorrangige Erziehung ihrer Kinder zu pochen, das ihnen nicht weggenommen werden dürfe. Wie realistisch ist solch eine Argumentation? 

Glattauer: Dahinter steht ein Gedanke, der mir fremd ist, nämlich dass Schule „falschere“ Werte als jene der Eltern vermitteln würde. Natürlich wollen Eltern ihren Kindern bestimmte Werte vermitteln. Aber ich kenne keinen Fall, wo die Schule die Werte der Eltern korrigieren würde. Eltern und Schule ziehen doch an einem Strang. Im Übrigen sehen wir, dass Eltern oft die Zeit für Erziehung fehlt, weil beide Teile Vollzeit arbeiten gehen müssen. Das ist traurig, aber das Gegenstück – „Frau zurück an den Herd“ – ist noch schlimmer. Ein Kind sollte möglichst viel elterliche Unterstützung haben – und möglichst viel von der Schule.

Sie haben auch eine Lehrbefähigung für den Religionsunterricht beim Studium erworben und treten dafür ein, dass es statt des konfessionell getrennten Unterrichts einen Religionenunterricht für alle Kinder geben soll. Warum? 

Glattauer: Für mich ist auch der derzeitige Religionsunterricht wichtig, aber er greift mittlerweile zu kurz. Denn man kann die Schüler/innen vom Religionsunterricht abmelden – mit 14 Jahren können sie das selbst. Dieses Freistellen des Religionsunterrichts ist ein Fehler. Religion gehört zu unserem Leben. Gut damit umgehen zu können, ist eine wichtige Bereicherung. Aber ich kenne zum Beispiel persönlich in Wien niemanden, der evangelischen Religionsunterricht besucht. Auch die Muslime gehen nur zu einem kleinen Teil in den schulischen Islamunterricht. Am ehesten kommen noch die Orthodoxen. In Wien findet der Religionsunterricht in der Regel nur mehr am Nachmittag statt, weil das aufgrund der Vielfalt der Religionen anders mit dem Stundenplan nicht organisierbar ist. Nachmittagsstunden machen Religion aber nicht attraktiv.

Wie sieht Ihre Alternative zum nach Konfessionen getrennten Religionsunterricht konkret aus? 

Glattauer: Ich bin für einen verpflichtenden Religionenunterricht am Vormittag, bei dem  in einer Art „Ringvorlesung“ den Schülern die großen Weltreligionen vorgestellt werden. Warum sollte eine Stunde Religion pro Woche* weniger wichtig sein als die vierte Stunde Mathematik? Ich denke, dass wir so auch den Radikalismus besser in den Griff bekommen. Denn wenn sich Kinder nach drei Wochen Belehrung durch einen Freund auf der Straße oder in einer radikalisierten Moschee zum Heiligen Krieg rufen lassen, zeigt das, wie religiös unterbelichtet sie sind. Wenn sie aber erfahren, was der Prophet wirklich sagt, und wie Christen, Juden oder Buddhisten dazu Stellung nehmen, fiele Verführung auf weniger fruchtbaren Boden.

Nach wie vor läuft an nicht wenigen Schulen der Schulversuch, bei dem Schüler/innen, die sich von Religion abmelden, in den Ethikunterricht gehen müssen. Ist das für Sie keine Alternative? 

Glattauer: Ich bin kein Freund davon, Ethik als Ersatzgegenstand für Religion aufzubauen. Gut vorstellbar wäre, Ethik im Rahmen des Religionenunterrichts zu behandeln.

Wir kennen die Rede von den „Ghettoschulen“ in Gegenden mit großem Migrantenanteil. Eltern vermeiden es, ihre Kinder dorthin zu schicken. Aber entstehen nicht auch auf dem Privatschulsektor „Wohlstandsghettos“? 

Glattauer: Ich werfe niemandem vor, seine Kinder auf eine Privatschule zu schicken, wünsche mir aber, dass die öffentliche Schule gestärkt wird. Ich bin selbst in eine katholische Privatschule gegangen, meine Tochter in der Volksschulzeit auch. Mein Sohn besucht eine öffentliche Volksschule. Zumindest in der Privatvolksschule meiner Tochter wurde auf eine soziale Durchmischung geachtet. Aber die Schulpolitik müsste sagen: Wir haben genug Privatschulen. Denn sonst wird durch die Hintertür die Zwei-Klassen-Gesellschaft noch stärker geprägt. Gesellschaften sollten solidarisch zusammenhalten. Zu sagen: „Ich schaue, dass es meinem Kind gutgeht, und der Rest ist mir egal“, schafft keine Welt, in der unsere Kinder glücklicher sind als in der heutigen.

Interview: Heinz Niederleitner

* Wenn weniger als zehn Kinder eines Bekenntnisses pro Klasse zum Religionsunterricht angemeldet sind und das ist weniger als die Hälfte der Klasse, wird nur eine Stunde pro Woche erteilt.

Das Interview erschien in der Ausgabe des Tiroler Sonntag vom 6. Juli 2017.

Was tun mit den Ferien? Auf eine lockere Art könnte man sie teilweise auch in der Schule verbringen, sagt Niki Glattauer. Foto: Przemekklos / photocase.de