Podiumsgespräch zu Josef Mayr-Nusser

Diözese Innsbruck und Militärkommando Tirol haben vor kurzem zu einem Podiumsgespräch anlässlich der Seligsprechung des Südtirolers Josef Mayr-Nusser geladen. Hier lesen Sie die Statements von Generalmajor Mag. Herbert Bauer und Theologieprofessor Dr. Jozef Niewiadomski.

Statement von Generalmajor Mag. Herbert Bauer: 

Am 18. März 2017 wird Josef Mayr-Nusser (1910 -1945) im Bozner Dom seliggesprochen. Der katholische Südtiroler wurde nach seiner Weigerung, den SS-Eid abzuleisten, wegen Wehrkraftzersetzung zum Tode verurteilt. Auf dem Transport ins Konzentrationslager Dachau verstarb Mayr-Nusser an den Folgen der Haft und Entbehrungen.

Entscheidungen wie sie Mayr-Nusser für sich, allerdings auch mit Auswirkungen auf seine Familie, getroffen hat, lassen uns heute oft bedrückt dastehen. Heute, 72 Jahre später, mit all dem historischen Wissen, mit weiterentwickelten politischen Systemen und mit einer etablierten Demokratie, ergibt sich eine völlig andere Situation, als sie damals vorhanden war. Das heutige Wissen über damals und das heutige Verständnis von, in der Verfassung garantierten Menschenrechten, darf aber nicht dazu verleiten, sie als Maßstab für Bewertungen der damaligen Situationen zu verwenden. Das ist auch insoferne von Bedeutung, als sich automatisch die Frage stellt, ob Leute, die den damals geforderten Eid abgelegt haben, schuldhaft oder verwerflich gehandelt haben, was wohl zu verneinen ist. Das Ableisten des gesetzlich verankerten Eides ist, für sich genommen, keine schuldhafte Handlung. Dass jedes einzelne Individuum jeweils die uns heute bekannte und zu Recht verurteilte Situation auch vollkommen überblickt hat und bewerten, also als Maßgabe für das eigene Gewissen heranziehen konnte, darf bezweifelt werden. Klar war jedoch für jedermann, dass, als letzte Konsequenz, eine Verweigerung gegenüber den gesetzlich bestimmten Aufträgen - wie zB den Eid - mit dem Tode bestraft werden konnte und auch mit Auswirkungen auf die Familien zu rechnen war. So bleibt uns heute nur, die persönliche Entscheidung Mayr-Nusser´s anzuerkennen. Da die Entscheidung, gemäß den vorgelegten Dokumenten, aus seiner religiösen Haltung entsprang, kann sie als seine Gewissenentscheidung zur Kenntnis genommen werden. Daraus resultiert jedoch nicht das Recht, andere, soweit sie im Krieg nicht durch entsprechende Handlungen persönliche Schuld auf sich geladen haben, zu verurteilen.

Für den Soldaten in Österreich heute ist – auch aufbauend auf historischen Erfahrungen – eine völlig andere Situation gegeben, als sie Mayr-Nusser zu seiner Zeit vorgefunden hat. Wohl besteht in Österreich nach wie vor die Wehrpflicht, jedoch ist die Todesstrafe, wie sie zur Zeit des Nationalsozialismus gesetzlich legitimiert war, 1968 auch aus dem Militärrecht gestrichen worden. Wenn ein Mann heute aus Gewissensgründen den Wehrdienst verweigert, besteht sogar die Möglichkeit seine Pflicht an der Allgemeinheit in Form eines Zivildienstes abzuleisten. Entschließt sich der männliche Staatsbürger für die Pflicht, am Schutz der Allgemeinheit in Form des Wehrdienstes mitzuwirken, hat er ein Treuegelöbnis abzuleisten. Damit liegt allerdings kein religiöser Akt mehr in Form eines sakrosankten Eids vor.

Das Gelöbnis verpflichtet den Leistenden nicht auf eine Person, wie in diktatorischen Systemen üblich, sondern auf den Staat als solches und die demokratisch legitimierten Organe. Er ist zum Gehorsam verpflichtet, was, im Hinblick auf den allenfalls erforderlichen Einsatz seines Lebens zur Auftragserfüllung, von besonderer Bedeutung ist. Er ist zugleich aber auch gesetzlich abgesichert, indem er Befehle, die gegen das Strafgesetz verstoßen, nicht befolgen muss.

Generalmajor Mag. Herbert Bauer, Militärkommandant von Tirol; Kurzform der Position zur Diskussion „Gehorsam und Gewissen im Umgang mit staatlicher Autorität“ anlässlich der Seligsprechung von Josef Mayr-Nusser (1910 -1945); Innsbruck am 9.3.2017  

 

Statement von Prof. Dr. Jozef Niewiadomski: 

“Bete für mich liebe Hildegard, damit ich in der Stunde der Bewährung ohne Furcht und Zögern so handle, wie ich es vor Gott und meinem Gewissen schuldig bin.” Eine Woche vor der öffentlich vorgetragenen Verweigerung des SS-Eides bittet Josef Mayr-Nusser seine Frau (in einem Brief vom 27. September 1944) um das Gebet für ihn. Faktisch teilt er mit dieser Bitte um das Gebet seine Entscheidung seiner Frau mit, bezieht sie also in die Rationalität seiner Logik ein. Sein Dilemma das er mit Hilfe dieser Logik zu lösen sucht und das ihn unweigerlich dem Risiko des Todesurteils aussetzt, betrifft den Umgang mit einer als dämonisch erkannten staatlichen Autorität und dem vor ihr geforderten Gehorsam. Der tiefreligiöse Mensch, der sich sein Leben lang um eine profilierte Spiritualität bemühte, gerät somit in Gewissensnot sondergleichen, weil er zur gläubigen Überzeugung gelangt, dass er diesen Eid unmöglich leisten kann, auch wenn er damit gerade die Menschen, die er am meisten liebt - seine Frau und seinen Sohn - ins Unglück stürzen wird.

Wie kann nun die Rationalität seiner Logik beschrieben werden? Seine christlich geordnete Welt schätzte spätestens seit Augustinus den Gehorsam als “Mutter und Wächterin aller Tugenden”. Der Gehorsam war sozusagen das Qualitätssiegel eines geordneten Lebens, das ja dem höchsten Gut - Gott selber - untergeordnet bleibt, genauso wie der Leib der Seele und der Einzelne der ihn tragenden Gemeinschaft. Durch intensive Lektüre des großen Meisters der Scholastik, Thomas von Aquin, lernte Mayr-Nusser einerseits, dass es ein Leben ohne Gehorsam nicht geben kann, anderseits aber, dass es Kriterien für jenen Gehorsam gibt, den der Mensch seinen Vorgesetzten schuldet. Gerade den Inhabern der staatlich-politischer Macht ist, um der geordneten Beziehungen unter den Menschen willen, Gehorsam geschuldet; ihnen ist aber nur insoweit zu folgen, “als es die Ordnung der Gerechtigkeit fordert”. Das Dilemma in dem Mayr-Nusser steckt ist ohne den “Tiefgang” seiner  gelebten Religiosität kaum nachvollziehbar. Der im besten Sinn des Wortes verstandene “Vorzeige-Laie” der damaligen kirchlichen Kultur suchte ja mit aller Kraft die Sendung der Kirche in der unkirchlich werdenden Welt durch überzeugtes und überzeugendes Zeugnis zu erfüllen. Was er tagtäglich lebte ist ein sozial sensibler, intellektuell vertiefter und politisch wacher Katholizismus. “Christus, dem alleinigen Führer” folgend, bildete der Leiter der Katholischer Jugend sein Gewissen und auch das Gewissen der Jugendlichen gemäß den Weisungen der Kirche, so wie er diese mit Hilfe kirchlicher Hierarchie, aber auch durch eigenes Studium und Exerzitienpraxis begriffen hat. Bereits auf dem Pulverfass des herannahenden Weltkrieges stehend, formulierte der Jugendführer: “Zeugnis zu geben ist heute unsere einzige, schlagkräftigste Waffe. [...] Welche Kraft geht von einem jungen Menschen aus, der einfachhin christlich lebt.” Freilich verstand er darunter all das, was der “lebendige Christ tagtäglich lebt, zu Hause, bei der Arbeit, auf dem Felde, in der Werkstatt, bei den Menschen”. Dass sich in seinem Leben das Zeugnis radikal auf die Fragen vom Gehorsam (einer als ungerecht empfundenen) staatlicher Autorität gegenüber und dem katholisch geprägten Gewissen verdichten wird,  das konnte er in dieser Zeit vielleicht nur ahnen.

Angesichts der Herausforderung, die dem Ehemann und Familienvater eine (erst) 1944 erfolgte Einberufung zu einer SS-Einheit stellte, hätte er sich zwar mit “Ach und Krach” aus seinem Dilemma durch die Erinnerung an seine frühere Entscheidung hinauskatapultieren können. Am 15. Juni 1931 hatte er ja den Militäreid beim italienischen Militär und dies bereits in der Zeit der faschistischen Regierung geleistet. Damals verhalf ihm die Erklärung von Papst Pius XI. zur Entscheidung. Dieser schlug den Weg der Einschränkung der Verpflichtungslogik des Eides vor und empfahl den Katholiken  beim Eid vor Gott und dem eigenen Gewissen den Vorbehalt zu machen: “unbeschadet der Gesetze Gottes und seiner Kirche”. Die Erinnerung an zwei Mitglieder der Katholischen Jugend  (Ernst Haller aus Bozen und Otto Nussbaumer aus Montan), die im Jahre 1940 zur Waffen-SS einberufen wurden, sich aber weigerten dieser Waffengattung mit dem Hinweis auf Gewissensnot beizutreten und durch “verständnisvolle Vorgesetzte” zur Wehrmacht abgeschoben wurden, verbat ihm nun eine “reservatio mentis” (eine nur im Geiste vollzogene Einschränkung, die den Eid faktisch desavouiert). Paradoxerweise wollte gar der “Spieß” der Ausbildungseinheit das durch die Weigerung Mayr-Nussers entstandene Dilemma auf ähnliche Weise lösen. Gemäß den Erinnerungen eines der Kameraden banalisierte er die ganze Angelegenheit und erklärte den wohl verdutzten Rekruten, “dass das Schwören beim Militär doch keine Sache sei, die man irgendwie ernster nehme”. Außerdem “sei [er] bereit, jeden Tag zur Vereidigung zu gehen”. Als diese Strategie keine Wirkung zeigte, ebnete er sogar den Unterschied zwischen Wehrmacht und der SS ein und erklärte, “dass man bei der SS ganz dasselbe schwöre wie bei der Wehrmacht”. Mayr-Nusser blieb bei seiner Weigerung. Obwohl er sich schlussendlich auch mit Hilfe der von einigen seiner katholischen Kameraden geglaubten Logik aus seinem Dilemma zumindest kurzfristig hätte befreien können. Hans Neuhauser beschrieb diese Logik in seinem Brief an die Witwe: “Vor was jedem von uns bang war, der etwas darauf hielt, war die Bewahrung des Glaubens bei der berüchtigten SS. Dass dann, wenn man von uns den Austritt aus der Kirche gefordert hätte, Ihr Mann nicht allein gewesen wäre, dafür glaube ich gutstehen zu können. Über das wurde auch unter uns hie und da gesprochen. Dass man da hätte sich weigern müssen, wäre vielen von uns klar gewesen. Aber dass man den Eid selbst verweigern könnte, aus den Gründen aus denen ihn Ihr Mann verweigert hat, das wäre wohl niemanden von uns eingefallen”.

Weil er im Weg solcher und ähnlicher Kompromisse keine Lösung für sein Dilemma sah, hat also Mayr-Nusser in voller Überzeugung, dass im Fall der SS-Einheit sich “Vorgesetzte als entschiedene Verneiner und Hasser dessen gezeigt [haben], was uns Katholiken heilig und unantastbar” bleibt, den Eid verweigert, seine Haltung aber in den Kategorien des ihm und seiner Frau abverlangten Opfer in der Nachfolge Christi gedeutet. Deswegen bat er auch seine Frau um das Gebet, dass er die Kraft zu einem solchen Zeugnis hat. Deswegen empfand er auch “einen unsagbaren Trost” beim Gedanken, dass er und seine Frau mit einer Selbstverständlichkeit sondergleichen zusammenstimmen in dem, was ihnen in ihrem Gewissen “am heiligsten” ist. Die Tragik seiner Entscheidungssituation ist kaum zu überbieten.  Das Dritte Reich stürzt - wenn auch noch verhältnismäßig zäh - unweigerlich in den Abgrund der Katastrophe; die Ostfront ist vom Ort der Entscheidung inzwischen kaum 200 Kilometer entfernt. Das Militär ahndet - wie dies halt in solchen Situationen meistens der Fall ist - alle Anzeichen der “Wehrkraftzersetzung” mit unerbittlicher Strenge. Der gesunde Menschenverstand gebietet all jenen Soldaten, die ihren Dienst mit der Waffe aufgrund vom Zwang, nicht aber mit “pseudoreligiöser Inbrunst” versehen, wenn schon nicht zur Fahnenflucht, so doch zur Mäusedruckerei überall dort, wo diese nur möglich ist. Der Weg der “faulen Kompromisse” wird geradezu zur Überlebensstrategie. In einer solchen Situation kümmert sich dieser eine Mann nicht um die “Rettung seiner Haut”, sondern - klassisch ausgedrückt - um die “Ehre Gottes” und die “Rettung seiner Seele”. Sein scharfes Urteilsvermögen sagt ihm in dieser tragischen Situation, dass all die Kriterien für eine richtige Entscheidung, die ihm die klassische Lehre vom Gehorsam und Gewissen bietet, versagen. Weil “das höchste Gut” beim Absturz in den Abgrund durch “Masken des Versuchers” überdeckt werden kann. Zu deutlich steht ihm die dramatische Entscheidungssituation Jesu im Gethsemane vor Augen. Weil sich also dieser Mann dessen bewusst bleibt, dass das Antlitz Gottes und die Fratze des Versuchers zum Verwechseln ähnlich werden können, betet er und er bittet um das Gebet, damit er “vor Gott und seinem Gewissen” bestehen und das Zeugnis für die Wahrheit des einen, wahren Gottes glaubwürdig ablegen kann. Mit der Seligsprechung von Josef Mayr-Nusser verleiht nun die Kirche sowohl der Rationalität dieser Logik, die den Mann in sein Dilemma führte, als auch dem von ihm gewählten Weg der Lösung seines Dilemma den Gütesiegel der Heiligkeit: Weil er “in odium fidei”, also wegen Hass gegen den christlichen Glauben, in der Haltung der Hingabe gestorben ist, wird Josef Mayr-Nusser als Märtyrer in der Katholischer Kirche verehrt werden. 

Warum nun diese Seligsprechung? Reicht es nicht aus, dieses Opfer des Nationalsozialismus  unter den Kategorien der mutigen - damit auch zukunfteröffnenden - Verweigerung zu gedenken? Wäre damit die kulturelle und politische Größe dieses Mannes nicht genügend gewürdigt? Die Bedeutung seiner Entscheidung wurde schon bisher nicht unterschätzt und sie wird auch in den zukünftigen politischen Diskursen nicht unterschätzt werden. Und warum wohl? Nicht nur dem Erschrecken über die Folgen einer allzu formalen Auffassung des Gehorsams im Nationalsozialismus, sondern auch dieser Entscheidung von Mayr-Nusser (und auch der Entscheidung vieler anderer Eidesverweigerer) ist die Revision des Verhältnisses von Gehorsam und Gewissen in den ethischen Reflexionen der Nachkriegsphilosophie und Theologie zu verdanken. Die Hochschätzung des Gewissens (für die Katholische Kirche v.a. im Text von “Gaudium et spes” 16), die Anerkennung der Menschenrechte und der Mündigkeit jeden einzelnen hat für die Frage nach dem Gehorsam unverrückbare neue Referenzpunkte geschaffen. Gehorsam wurde aus dem unbefragten Podest der “Mutter und Wächterin” aller Tugenden gestürzt, ist selbst begründungspflichtig geworden, kann deswegen nur noch gefordert werden, wenn es als Dienst am Lebensrecht der Menschen verstanden wird. Und Mayr-Nusser ist eine der Ikonen, die diesen Wandel mit dem Preis ihres Lebens bezahlt haben!

Erweist sich aber gerade in diesem Horizont die Seligsprechung eines Märtyrers in unserer Gegenwart nicht als kontraproduktiv? So paradox und überraschend auf den ersten Blick die nun zu stellende Frage klingen mag, sie muss gestellt werden. Könnte nicht mit den Worten, mit denen Josef Mayr-Nusser seine Frau in sein Dilemma einbezog hat, auch ein Selbstmordattentäter sich an seine Familie wenden und sie mittels dergleichen Rationalität in die Faszination der religiös motivierten Gewalt mit hinein ziehen? Die Selbstmordattentäter sehen sich selber und werden von “ihren Anhängern” auf jeden Fall als Märtyrer verehrt. Die prinzipielle - und gerade angesichts islamistischer Umtriebe keineswegs überholte - Differenzierung in der christlichen Tradition, die auf Augustinus zurückgeht und die besagt, dass nicht das Getötetwerden, sondern die Gesinnung, in der ein potenzieller Märtyrer stirbt, den Märtyrer ausmacht, hilft uns heute nur bedingt weiter. Denn auch die Attentäter werden von einer Gesinnung getrieben, dass sie sich opfern müssen, um eine gottlose Welt zu bekämpfen. Formal gesehen denken sie ähnlich wie der Südtiroler Märtyrer, wenn er davon sprach,  dass in der Welt, in der wir leben “zwei Welten aufeinander stoßen”. Weil sie in der westlichen Kultur den Inbegriff der Gottlosigkeit erblicken, sind die Islamisten bereit ihr Leben aufs Spiel zu setzen, um möglichst viele gottlose Menschen in die Hölle, sich selber aber und die Ihrigen in den Himmel zu katapultieren. Weil diese religiöse Konnotation des Gewalttodes einen scheinbar unentwirrbaren Knäuel von Lebenshaltungen und Bedeutungen mit sich bringt, wird der moderne, liberal eingestellte Zeitgenosse den entscheidenden Wert der Biographie von Josef Mayr-Nusser - die radikale Bindung des Gewissens an den Willen Gottes - heute radikal in Frage stellen. Mehr noch: er wird darin die Ursache des gegenwärtigen religionspolitischen Dilemma sehen. Und dies schlicht und einfach deswegen, weil er bei der Bindung des Gewissens an den Willen Gottes die Gefahr, wenn gar nicht den Inbegriff des gefährlichen Fanatismus erblickt. Immer und immer wieder zeigt sich ja die liberale Öffentlichkeit bestürzt über die Ergebnisse von Umfragen und methodisch angelegten Forschungen unter den Muslimen, zu der - meist unpräzis gestellten - Frage, ob diese Gottes Gebote über das staatliche Gesetz stellen. Die positive Antwort wird fast von allen Kommentatoren als Indikator für Fundamentalismus, der schlussendlich im Glauben der Selbstmordattentäter münden müsse, gewertet. Gerade angesichts dieser weit verbreiteten kulturellen Mentalität müssen die Unterschiede zwischen den hier zur Diskussion stehenden Haltungen, aber auch der Wert der religiösen Motivierung der Entscheidung von Mayr-Nusser vertieft reflektiert werden.

Die Mentalität, der ein liberal strukturiertes Denken entspringt, entspricht jener Logik, die  John Lennon im Jahre 1971 in seinem weltberühmten Song: “Imagine” geradezu auf den Begriff brachte: “Stell dir vor,/ es gibt den Himmel nicht,/ keine Hölle unter uns./ Stell dir all die Menschen vor/ leben nur für den Tag./ Stell dir vor/ es gäbe keine Länder/ das ist nicht so schwer/ Nichts wofür es sich zu töten oder sterben lohnte/ und auch keine Religion./ Stell dir vor all die Leute/ lebten ihr Leben in Frieden.

Das Lied thematisiert (auch in den weiteren Strophen) die Vision eines harmlosen und glücklichen Zusammenlebens von Menschen; man wäre fast geneigt zu sagen, deren liebenswürdige Naivität hätte der Nährboden für die Träume vom global village sein können, wie diese in den ersten Monaten der Globalisierungseuphorie von vielen Menschen geträumt wurden. Die Beseitigung von Tabus und Grenzen, vor allem aber das Zurückdrängen von Religion  stellte dieser Weltanschauung die Bedingung einer universalen Harmonie der Menschheit dar. Selbst - der wohl profilierteste deutsche Philosoph - Jürgen Habermas konnte damals vollmundig formulieren, der normative Kern der Aufklärung bestehe darin, die Moral des öffentlich zugemuteten sacrificium (Opfer/Hingabe) abzuschaffen. Die Realpolitik und auch die kulturpolitische Diskussion haben von der Rationalität dieser Logik längst Abschied genommen. Spät aber doch erkannte man, dass das gesellschaftliche Leben ohne Solidarität, aber auch ohne Grenzen allzu leicht im Chaos mündet. Eines der im Lied thematisierten Störungsfaktoren beherrscht allerdings weiterhin die öffentliche Debatte und zwar in der von John Lennon beabsichtigten Nuance. Die Religion, vor allem die ernst genommene Religion, wird weiterhin bloß als Ursache des Unfriedens wahrgenommen und auch kritisch beurteilt. Deswegen bleibt die Bindung des Gewissens an den Willen Gottes dem kritisch aufgeklärten Zeitgenossen ein Dorn im Auge. Allen theologischen Bemühungen der letzten Jahrzehnte zum Trotz wird weiterhin im öffentlichen Diskurs engagierte Religiosität und der gewaltbereite Fundamentalismus in einen Topf geworfen. Die Worte von “Imagine” paraphrasierend könnte man sagen, unsere Öffentlichkeit vermag kaum den radikalen Unterschied nachzuvollziehen, der die Überzeugung, dass es etwas gibt, wofür es sich zu sterben lohnt vom Glauben trennt, dass es etwas gibt, wofür es sich zu töten lohnt. Deswegen  ist sie bereit die Religion letztlich nur zu akzeptieren, wenn diese ihren Wahrheitsanspruch zurückstellt. Die Gefahr, der eine Gemeinschaft bei dieser kulturpolitischen Strategie erliegt, wird verniedlicht. Wenn aber eine Kultur nicht mehr bereit ist die Wahrheitsfrage zu diskutieren, dann verfällt sie unweigerlich der Versuchung vieler, auch “alternativer Wahrheiten”, dann wird auch der Unterschied zwischen Gott und den Götzen nicht mehr verstanden. Das “höchste Gut” steht dann unweigerlich zur Disposition. Und dies nicht nur im  Bereich des privaten Lebens, sondern gerade in der Öffentlichkeit. Das Erschrecken über den Angriff islamistisch motivierter Attentäter auf die westlich-liberale Kultur und die durch dieses Erschrecken genährte Illusion, dass man durch weitere Banalisierung religiöser Haltungen und die Konsumkultur der Gefahr in der wir alle stecken entgeht, gleichen jener Strategie, die Jesus in seiner Auseinandersetzung mit den Pharisäer auf den Begriff brachte, als er davon sprach, dass man (immer wieder) versucht sei, den Teufel durch Beelzebub auszutreiben. 

Die formale Parallele, die es zwischen den Märtytern, damit auch zwischen der Haltung von Josef Mayr-Nusser und den islamistischen Selbstmordattentäter gibt, die ja daraufhin zielt, dass das Gewissen radikal an den Willen Gottes gebunden bleibt, muss durch den Inhalt dessen, was der Wille Gottes sei, radikal in Frage gestellt werden. Mayr-Nusser und die Attentäter bleiben in ihrem Leben und Sterben der Wahrheit verpflichtet, so wie sie diese Wahrheit im Gewissen erkannt und wahrgenommen haben. Der Gott der Islamisten verpflichtet sie aber zu töten, gar oder gerade mittels ihres eigenen Todes zu töten. Darin erblicken sie die “Ehre Gottes”. Das Gesicht dieses Gottes, damit auch seine Ehre reduzieren sich zum Gesicht des Todes. Getötet werden und Töten bleiben zwei Seiten von ein und demselben Geschehen; die so verstandene “Ehre Gottes” entlarvt diesen Gott als Götzen und zeigt sein wahres Wesen: es ist im Grunde die Fratze des Versuchers. Eine Fratze, die sich im Tod letztlich ins Nichts auflöst. Klassisch formuliert: es ist nicht Gott, sondern der Teufel, der das Gewissen des Selbstmordattentäters bindet. Deswegen legt dieser mit seiner Tat keineswegs Zeugnis für die Wahrheit, sondern für die Lüge. Auf ähnliche Weise funktionierte ja die Ideologie des “höchsten Gutes” bei den Nationalsozialisten, die ja in den “Totenköpfen” der SS eine nicht nur symbolische Verdichtung fand. Mayr-Nussers Gewissen ist aber an den Willen jenes Gottes gebunden, der ein Freund, ja ein Liebhaber des Lebens ist (vgl. Weish 11,26). Seine Wahrheit könnte angesichts der tragischen Situation unmöglich mit Hilfe der “reservatio mentis” bezeugt, geschweige denn mit Gewalt verteidigt werden. Die Ehre dieses Gottes erweist sich nicht dadurch, dass er Menschen in ihrem Gewissen zum Töten verpflichtet. Und auch nicht zur Selbsttötung! Denn gerade dadurch würde das Gesicht des wahren Gottes von der dämonischen Fratze des Teufels nicht mehr unterschieden werden können. Beim Gottesbild also, von dem das Gewissen des gläubigen Menschen den Willen Gottes für die jeweils konkrete Situation des Lebens ableitet, liegt ein nicht zu nivellierender Unterschied zwischen den Märtyrer und den Selbstmordattentäter. Wenn unsere Kultur diesen Abgrund übersieht, oder gar banalisiert, so ist das bereits die Folge der Täuschung, in die wir alle durch den “Versucher” gefangen geführt werden. Nur einer von Projektionen, Täuschungen, Lüge, damit auch einer von der Sünde strukturierten Kultur erscheint nämlich die Hingabe (sacrificium) automatisch als Aufforderung zu sterben. Das ist der gefährliche Irrtum der Sünde, dem die Kulturen und auch Religionen immer wieder erliegen. Verführt durch die Faszination der Gewalt und der Sünde können die Menschen das Leben, das sich ihnen in der Hingabe eröffnet, nicht unverzerrt wahrnehmen. Deswegen wollen sie, wollen auch jene, die durch Martyriumssehnsucht verführt werden, wollen also die Selbstmordattentäter mehr als das Leben. Sie wollen die Infragestellung des Lebens, sie wollen den Tod. In dem Moment aber, in dem die Gewalt und die Sünde ihren Einfluss auf unsere Vorstellungskraft verlieren, zeigt sich, dass Hingabe, sacrificium, eine Haltung des Lebens und der Liebe ist und bleibt - und niemals eine “relatio” (Beziehung) der Vernichtung. Was bedeutet diese theologische Reflexion für die Bewertung des Sterbens von Josef Mayr-Nusser?

Getragen von der Faszination jenes Gottes, der ein Gott des Lebens, ja der Liebhaber des Lebens ist, blieb Mayr-Nusser sein Leben lang - sowohl in der Vinzenzgemeinschaft, in der Katholischen Jugend und auch in seinem Ehe- und Familienleben - dem “Leben auf der Spur”. Weil er konsequent dem Leben auf der Spur blieb, auch oder gerade dann, wenn er das ihm vertraute Koordinatensystem von Gehorsam und Gewissen als Orientierungshilfe für die Gestaltung des Alltags nahm, geriet er in einer vom Tod und den Götzen des Todes strukturierten Kultur in ein Dilemma, aus dem es letztlich weder durch Kompromisse, noch durch “reservatio mentis”, sondern nur durch den Preis der Hingabe seines Lebens den Ausweg gab. Doch verlor er sein Leben nicht an den Tod, sondern übergab es - in der Nachfolge Christi stehend - dem Liebhaber des Lebens: dem einzig wahren Gott. Deswegen wird er zur Ehre dieses Gottes als Märtyrer seliggesprochen.