Mit dem Leben antworten

Im großen Tiroler Sonntag-Interview erzählt Bischof Hermann Glettler, wie es ihm auf seinem langen Weg in die Volksschule gegangen ist, welche Glaubenszeugen für ihn prägend geworden sind und weshalb er sich für seinen Wahlspruch entschieden hat.

Wieviele Geschwister haben Sie? 

Bischof Hermann Glettler: Ich habe vier Geschwister. Ich bin der zweite nach meiner Schwester Maria. Nach mir sind noch Andreas, Christine und Stefan auf die Welt gekommen.

Wie war das als Zweitgeborener? 

Bischof Glettler: Meine ältere Schwester war um einiges strebsamer. Auf dem Weg in die Volksschule mussten wir von unserem Bauernhof drei Kilometer hinunter ins Dorf, und nach Hause natürlich wieder dieselbe Strecke hinauf. Ich war immer wesentlich langsamer als sie, denn ich wollte im Wald spielen und alles Mögliche bauen. Sie wollte nach Hause zum Lernen. Das hat mich ziemlich „narrisch g’macht“ (lacht).

 

Wie erleben Sie im Rückblick Ihre Kindheit? 

Bischof Glettler: Zusammenfassend kann ich sagen: Es war ein durchgängiges Wohlbefinden – trotz vieler Schwierigkeiten, die es in unserer Familie auch gab. Die Lebensverhältnisse auf unserem Bauernhof waren sehr einfach. Meine Eltern mussten die Landwirtschaft im Nebenerwerb führen. Wir hatten eine Kälberaufzucht in Zusammenarbeit mit einem Partnerbetrieb, der die Milchwirtschaft betrieb. Im Zweitberuf war mein Vater Elektriker und später bei der Bahn Lokführer. Ich habe schon als Kind gerne zu Hause mitgearbeitet. Mein Vater war immer recht innovativ und hat mir ziemlich früh schon verantwortungsvolle Aufgaben übertragen – ob im Forst, in der Werkstätte oder mit den Tieren. Vertrauen hat mich wachsen lassen.

 

Wie war das Glaubensleben in Ihrer Familie? 

Bischof Glettler: Relativ einfach und bodenständig. In der Früh gab es ein Morgengebet mit einem Segen. Außerdem haben wir in der Familie immer wieder auch gesungen. Am Sonntag in die Kirche zu gehen, war selbstverständlich. Erst meine jüngeren Geschwister haben dies in Frage gestellt. Im Advent wurde samstags der Rosenkranz gebetet und das christliche Brauchtum gehörte einfach dazu.

Mit zehn Jahren bin ich nach Graz gekommen, um das Bischöfliche Gymnasium zu besuchen. Ich war nicht im Internat, sondern bei einer Gastfamilie, in der es schon sieben Kinder gab. Es wurde meine zweite Familie, obwohl der Wechsel vom Land in die Stadt für mich wie ein Kulturschock war.

 

In welcher Weise wurden diese Erfahrungen für Ihr späteres Leben bedeutsam? 

Bischof Glettler: Etwas kreativ und eigenständig schaffen zu können – und gebraucht zu werden, wurde das Leitmotiv für meine Berufung, Priester zu werden. Ich hatte nie ein außergewöhnliches Berufungserlebnis, sondern zunehmend den Eindruck: Als Priester werde ich gebraucht. Aufgrund dieser persönlichen Erfahrung bin ich überzeugt, dass Gott uns meist im Alltäglichen begegnet, nicht im Außergewöhnlichen. Und es gibt viel mehr Berufungen als wir denken.

 

Sie erwähnten schon Ihre Eltern und Familie: Welche Menschen wurden Ihnen auf Ihrem Glaubensweg wichtig? 

Bischof Glettler: In der Volksschule hatten wir eine Religionslehrerin, die mir viel mitgegeben hat. „Gott ist Liebe“ – diese Botschaft erinnert mich immer an diese Frau. Ebenso denke ich an einen jungen Religionslehrer, der im ersten Jahr seiner Unterrichtstätigkeit regelmäßig bei uns zu Hause übernachtete. Er hat eine jugendliche Dynamik und Weltoffenheit in unsere Familie gebracht. Meine Eltern wurden durch ihn mit dem Glaubenskurs Cursillo vertraut. 

 

Und unter den Priestern?  

Bischof Glettler: Zunächst waren es in meiner Kindheit zwei ältere Priester – ein Kaplan, der interessanterweise auch künstlerisch tätig war, und der Dorfpfarrer, sehr gütig und väterlich zu uns Ministranten. Später orientierte ich mich an einem jungen, dynamischen Kaplan, der dann leider eine schwere Krise hatte und wegging. Dann kam ein Geistlicher aus Polen zu uns, der alkoholkrank war. Das hautnah mitzuerleben, hat mich ziemlich erschüttert. Aber sein Leben nahm eine Wende. Er konnte seine Suchterkrankung überwinden und wurde ein eifriger, betender Seelsorger. Die für mich prägendste Priestergestalt lernte ich im Rahmen eines Seminars der Charismatischen Gemeindeerneuerung kennen, Pfarrer Johann Koller aus Wien. So wie er von Jesus und vom Evangelium sprach, war für mich als 15-jährigen einfach überzeugend. Er hat uns von Menschen erzählt, die in schweren existentiellen Krisen Befreiung erfahren haben. Durch die Hinwendung zu Christus konnten sie sich aufrichten. Am Ende dieser Glaubenstage habe ich ein mutiges Gebet gesprochen und in jugendlicher Begeisterung mein Leben Jesus anvertraut. Von da an ist eine persönliche Beziehung gewachsen. Auch meine Vorstellung, Priester werden zu wollen, ist konkreter geworden.

 

Sie verspürten schon so früh den Wunsch, Priester zu werden? 

Bischof Glettler: Ja, schon sehr früh. Eine kindliche Gewissheit, wenn auch mit der möglichen Alternative, einmal Tischler zu werden. Ich würde sagen, meine Priesterberufung ist ganz natürlich mitgewachsen. Allerdings später, in den letzten Jahren vor der Matura ziemlich heftig von meinem Freundeskreis hinterfragt. Wir waren eine Gruppe von nicht allzu „braven“ Schülern, etwas verhaltenskreativ könnte man sagen. Aber, wenn es in unseren Diskussionen um Religion oder Kirche ging, habe ich mich extrem ins Zeug gelegt. Durch diese Auseinandersetzungen habe ich gelernt, dass der Glaube an Gott nicht für alle so klar ist. Es gibt viele, die aufgrund ihrer Lebenserfahrung skeptisch oder religionskritisch sind. Oftmals mit Recht. Es braucht eben beides, den ehrlichen Respekt vor anderen Weltanschauungen und zugleich auch den Mut, zur eigenen Überzeugung zu stehen. Zusammengefasst: Meine Berufung ist nicht in der Abgeschiedenheit gewachsen, sondern in vielen Begegnungen. Auch im Versuch, den Glauben an Jesus mit anderen zu teilen. 

 

Wie haben Sie das gemacht? 

Bischof Glettler: Während der Studienzeit habe ich zusammen mit Freunden Wochenenden für Jugendliche organisiert. „Jugend für Jesus“ nannten wir das Projekt. Da kamen monatlich bis zu 50 Jugendliche. Wir haben uns in Pfarrzentren getroffen. Zum Programm gehörten viele lustige und kreative Elemente. Wichtig für mich und andere junge Leute in Graz war ein sehr charismatisch begabter Priester, der uns nachhaltig inspiriert hat. Wir haben erlebt, dass Gottesdienste eine jugendliche Dynamik haben können. Es gab viel Freude und einen echten Aufbruch. Eine wichtige Unterstützung kam für uns in dieser speziellen Jugendarbeit schon von der Gemeinschaft Emmanuel, die in der Mitte der 1970er Jahre in Frankreich entstanden war.

 

Wie haben sie die Gemeinschaft Emmanuel kennengelernt? 

Bischof Glettler: Das war im Rahmen einer Maturareise mit einigen Freunden. Wir sind nach Frankreich gefahren auf der Suche nach starken Orten, kulturell und religiös
interessant – wie Ronchamp, Cluny, Taizé und Paray le Monial. Dort fand ein internationales Jugendtreffen statt, das von der Gemeinschaft Emmanuel organisiert worden war. Emmanuel ist eine Vereinigung von Gläubigen aller Lebensstände – Familien, Priester, Singles sowie auch zölibatär lebende Schwestern und Brüder. Die Seminaristen erzählten bei diesem Treffen, dass sie Priester werden wollten in Gemeinschaft und mit einer klaren missionarischen Grundausrichtung. Das hat mich sehr fasziniert und mich in meiner Berufung bestärkt. 

 

Aus der Art, wie Sie die Verbindungslinien zwischen den einzelnen Stationen Ihres Lebens zeichnen, spricht großes Vertrauen in Gott.  

Bischof Glettler: Dieses Vertrauen ist mit den Jahren gewachsen. Vor allem habe ich den Eindruck, dass mich Gott mit jeder Station auf die nächste vorbereitet hat. Ich glaube, dass wir gut geführt werden, wenn wir innerlich beweglich bleiben. Das Schöne an Gottes Vorsehung ist, dass Gott auch mit unseren Schwächen und Sturheiten wieder etwas Neues anfangen kann.

 

Der Heilige Geist als Kraft, die immer am Werk ist? 

Bischof Glettler: Vor kurzem hat mir ein Franziskanerpater ein lustiges Bonmot mit auf den Weg gegeben: „Hermann, der Heilige Geist ist immer am Werk. Das was herauskommt, wenn er seine Hand im Spiel hat, ist immer großartig. Aber wenn Du ihm beim Arbeiten zuschaust, wird Dir ganz schlecht“ (lacht). Ja, der Heilige Geist kann sogar noch aus falschen Entscheidungen etwas Positives machen! Ein Beispiel von Gottes Führung möchte ich erwähnen. Ich habe nach meiner Kaplanszeit ein Jahr in Paris verbracht, in einem Stadtteil mit einem extremen multikulturellen Mix. Alle Herausforderungen, denen ich dort begegnet bin – Probleme mit Integration der Zuwanderer, viele Obdachlose auf der Straße, ein aggressives Rotlichtmilieu, extreme soziale Härtefälle und anderes mehr – haben mich auf mein Pfarrersein in Graz vorbereitet. Ohne es auszusuchen bin ich in einem Stadtteil gelandet, wo es im kleineren Format ähnliche Voraussetzungen gab. Ich war dort 17 Jahre lang Pfarrer. Wir  mussten lernen, mit einem großen Vertrauen auf Gottes Führung die Türen unserer Herzen und unserer Pfarre zu öffnen. Das war schon abenteuerlich!

 

Was ist mit jenen, denen dieses Vertrauen abhanden gekommen ist? 

Bischof Glettler: Diese Frage macht mich nachdenklich. Ich darf ein sehr glückliches, beschütztes Leben führen – mit einem sinnvollen Beruf. Was ich an schwierigen Phasen erlebt habe, ist wenig im Vergleich zu dem, was andere Menschen an Belastungen, Katastrophen oder Schicksalsschlägen zu ertragen haben. Da kann das Vertrauen in Gottes Vorsehung schon schwinden. Vielleicht erwächst eine Trotzdem-Kraft aus dem Wissen, dass in unserem „Lebensteppich“ ein Webmeister am Werk ist, der einen größeren Überblick hat. Wenn wir einmal letztendlich bei Gott sind, werden wir unser Leben in seiner Ganzheit sehen. Wunderschön, auch wenn es einem jetzt noch so brüchig vorkommt. Viel zum Schauen und Staunen. Jetzt sehen wir meist nur die Unterseite, viele Fragmente und viele einzelne Fäden, unzählige abgeschnitten. 

 

Der Glaube in Tirol ist sehr von der Volkskirche getragen, die aber immer mehr an Kraft verliert. Welche Wege sehen Sie für die Zukunft? 

Bischof Glettler: Wir leben noch in einer Volkskirche und sind zugleich schon längst von ihr weg. Den Ausdruck „Volkskirche“ verstehe ich als Auftrag, viele Menschen auf einen Weg der Hoffnung mitzunehmen. Nicht abwerten oder ausschließen! In einer Zeit großer Beliebigkeit braucht es aber auch Menschen, die sich ganz bewusst für ein Leben in der Nachfolge Jesu entscheiden. Ich denk da nicht an einen Club von Superchristen, sondern an Gläubige, die ihrem Leben eine Wende gegeben haben. Ich denke an Gläubige, die stellvertretend für andere beten und jene nicht übersehen, die in ihrem Leben zu kämpfen haben. Man könnte es als „Jesus-Offensive“ überschreiben. Sie könnte unserer Volkskirche wieder neues Leben einatmen. Außerdem gibt es viele Menschen, die nie eine ausdrückliche Entscheidung für Gott getroffen haben, aber trotzdem durch ihr Leben in einer echten Gottesgemeinschaft sind.

 

Viele können sich unter „Nachfolge Jesu“ nicht viel vorstellen. Woran denken Sie? 

Bischof Glettler: Zuerst braucht es eine bessere Kenntnis der Person Jesu, sodass eine Freundschaft mit ihm wachsen kann. Warum nicht das Neue Testament aufschlagen und ein Evangelium lesen? Wir haben in Graz sehr gute Erfahrungen mit Alpha-Kursen gemacht. Dabei geht es um eine Gastfreundschaft für Interessierte und offen angelegte Gespräche. Tatsächlich finden Menschen zum Glauben. Als Pfarrer war mir die Erneuerung der Firmung für Erwachsene wichtig. So haben wir uns nach einigen Sonntagen der Vorbereitung am Pfingstfest im Altarraum versammelt. Zuerst um den Heiligen Geist gebetet und dann konnte jeder seine Firmung durch ein schlichtes Gebet erneuern. Nachfolge Jesu ist nichts Kompliziertes. Vielleicht heutzutage ein einfacher Lebensstil, etwas mehr Solidarität und Geduld miteinander. 

 

Sie haben für Ihre Aufgabe als Bischof den Wahlspruch „Geht, heilt und verkündet“ gewählt. Im „Gehen“ klingt Aufbruch an. Andererseits gibt es Gehen auch in der Bedeutung von „in sich gehen“. 

Bischof Glettler: Das Gehen gehört zur Grundgrammatik unseres Glaubens. Das war schon beim Volk Israel so. Abraham wird von Gott gerufen, aufzubrechen. Glaube ist Bewegung, sich rufen lassen und etwas zurück lassen. Sesshaftigkeit war immer die Versuchung des Volkes Israel – und in ähnlicher Weise quer durch die Jahrhunderte auch für die Kirche. Gott will, dass wir beweglich bleiben, weil er selbst höchste Lebendigkeit ist. Wir können ihn nicht festhalten und besitzen. Auch Jesus war immer unterwegs – vor allem auch in den Dörfern und Städten an der Grenze des jüdischen Gebietes. 

 

Welche praktische Auswirkungen hat das? 

Bischof Glettler: Interesse haben am Leben der Menschen im unmittelbaren Lebensumfeld. Kontakt aufnehmen, hingehen, anklopfen, besuchen, sich einladen lassen ... Auch jene aufsuchen, die aufs Erste nicht so sympathisch sind. Die innere Beweglichkeit hilft uns auch, jene besser zu verstehen, die unfreiwillig ihre Heimat verlassen mussten. Ihr Schicksal muss uns doch berühren! Nachfolge Jesu heißt, in die Grundbewegung Gottes einzutreten: Er ist uns in allem entgegen gekommen! Deshalb ist es so wichtig, dass wir im Modus des Aufbruchs bleiben. Ich will keine Kirche von Funktionären, keine Kirche, die sich hinter Schreibtischen oder Computern versteckt. Das Motto zum 50 Jahr-Jubiläum der Diözese Innsbruck hat es schon ausgedrückt: Aufbrechen!

 

Dann geht es in Ihrem Wahlspruch um das
Heilen. Die meisten Menschen werden dabei an einen Arztbesuch denken. 

Bischof Glettler: Auch gut. Gott selbst ist doch wie ein Arzt für uns. Jeder Mensch, der sich von ihm finden lässt, wird innerlich aufgerichtet. Beim lateinischen Wort „curate“, das im Wahlspruch vorkommt, geht es natürlich um das Heilen im medizinischen Sinn, aber ebenso darum, füreinander Sorge zu tragen, heilsam füreinander da zu sein. Positive, dankbare Menschen sind wie Medizin. Vielleicht gelingt es uns, inmitten einer von Konkurrenz getriebenen Gesellschaft „Kuratoren“ für das Wohl unserer Nächsten zu sein. Von den eigenen Wünschen und Befindlichkeiten öfter abzusehen. Heilung durch Aufmerksamkeit und Hinwendung, durch Versöhnung und Vergebung. Natürlich ist es auch wichtig, für Kranke zu beten. Gebet kann Wunder wirken! Ich möchte es nicht verabsäumen in diesem Zusammenhang auch von der Beichte zu sprechen, die leider ins Abseits gedrängt wurde – auch durch eine fehlgeleitete Praxis. Es wäre mir ein großes Anliegen, dieses Sakrament wieder neu mit Leben zu erfüllen. Gott schenkt Heil in den vielen Verwundungen unseres Lebens.

 

„Verkündet“ heißt es schließlich im Wahlspruch. Für Seelsorger mag die Bedeutung klar sein, für alle anderen Gläubigen vielleicht nicht so.  

Bischof Glettler: In der Verkündigung geht es zuerst um die Predigt des alltäglichen Lebens. Wenn ich gegenüber meinem Nachbarn ein ekelhafter Typ bin, dann kann ich ihm nichts von Gottes Güte erzählen. Aber es geht nicht selten auch darum, in Worte zu fassen, was uns geschenkt wurde. Also davon zu sprechen, was der Grund der Hoffnung ist, die uns erfüllt. Wenn möglich in einer Normalsprache – nicht frömmelnd und nicht abgehoben theoretisch. Wir sind da alle Lernende. Vielleicht gelingt es uns, in Bezug auf unseren Glauben, die üblichen Sprachschwierigkeiten abzubauen. Kardinal John Henry Newman meinte einmal: „Unsere Gemeinschaften sind oft deshalb so blutleer und unsere Zusammenkünfte so ideenlos, weil wir es nicht wagen, von dem zu reden, was wir im Herzen tragen.“ 

 

Nun gibt es ja viele Gläubige, die von Menschen umgeben sind, die Interesse am Glauben haben, aber von Kirche nichts wissen wollen. Wie können Christen mit solchen Situationen umgehen? 

Bischof Glettler: Wir können dankbar sein, dass es ein anhaltendes Interesse an Spiritualität gibt – auch außerhalb der Kirche. Die Suche nach Gott und die Möglichkeiten, wie er sich finden lässt, sind sehr vielfältig: Wir haben kein Monopol auf die Beziehung zu Gott. Er ist die immer größere Liebe, eine Liebe, die uns immer überschreitet – auch in unseren Vorstellungen und institutionellen Grenzen. 

Als Kirche müssen wir Zeugnis geben von Jesus Christus. In ihm hat Gott sein Herz gezeigt und sich verwunden lassen. Wir bezeugen ihn, indem wir dienen – nicht indem wir mit Wahrheiten auftrumpfen. Die Gemeinschaft all derer, die zu Christus gehören, bilden die Kirche. Sie hat eine konkrete, leibhaftige Gestalt, die über  Jahrhunderte gewachsen ist. Sie hat Brüche und Spaltungen erlebt und sich immer wieder erneuert.

 

David Steindl-Rast sagte einmal: „Die Angst
gehört zum Mut wie der Zweifel zum Glauben.“ Kennen Sie auch Zweifel? 

Bischof Glettler: Ja, ich kenne Momente und Phasen der Unsicherheit. Manche Sorgen blähen sich vor allem in der Nacht auf. Aber am Morgen entscheide ich mich bewusst wieder für das Vertrauen. Ich übergebe Gott meine Unruhe. Jeder Mensch hat Ängste. Am besten ist, wenn man sich an kleine Schritte des Mutes erinnert, mit denen sich Ängste schon einmal relativiert haben. Angst raubt das ganze Vermögen, auch das Vermögen, Probleme kreativ zu lösen. Angst raubt die Freude am Leben. Wirkliche Lebenslust, Unternehmungsgeist und Kreativität gibt es nur auf der Basis von Vertrauen und Dankbarkeit. Unzählige Male sagt uns Jesus: Fürchte Dich nicht!

 

Mit dem Blick auf die Gesellschaft: Wo sehen Sie die Angst am Werk? 

Bischof Glettler: Es gibt die Angst, jenen Wohlstand zu verlieren, in dem wir heute ganz selbstverständlich leben. Es stimmt, dass viele dafür hart gearbeitet haben, aber vielen ist der heutige Wohlstand mit den unendlich vielen Möglichkeiten, das Leben zu genießen, einfach auch zugefallen. Wenn kollektive Ängste das Lenkrad unserer Gesellschaft übernehmen, dann werden Lieblosigkeiten und Aggressionen zunehmen. Auf diesem Hintergrund sehe ich die Debatte über das Sozialschmarotzertum mit großer Sorge. Unsere Welt ist in Schieflage geraten – aufgrund von wirtschaftlichen und sozialen Ungerechtigkeiten und mangelnder Solidarität. So wichtig Grenzen sind, aber mit ihnen allein lässt sich keine kulturelle oder religiöse Identität sichern. Wichtig ist, dass wir uns fragen: Welche Antwort geben wir mit unserem Leben? Gott ist immer am Werk. In einem wunderschönen, wenn auch von Brüchen gezeichneten Leben tritt er uns entgegen und spricht uns an. Ich bin zuversichtlich, dass es uns gelingt, ihm zu antworten.

Das Interview führte Gilbert Rosenkranz