Falsche Traditionen aufgearbeitet

Vor 50 Jahren wurde das Konzilsdokument "Nostra aetate" über das Verhältnis der Kirche zu anderen Religionen veröffentlicht. Aus diesem Anlass veröffentlichte Bischof Manfred Scheuer ein Schreiben, in dem er unter anderem das Verbot des Kultes um das...

Vor 50 Jahren wurde das Konzilsdokument "Nostra aetate" über das Verhältnis der Kirche zu anderen Religionen veröffentlicht. Aus diesem Anlass veröffentlichte Bischof Manfred Scheuer ein Schreiben, in dem er unter anderem das Verbot des Kultes um das „Anderl von Rinn“ bekräftigt.
„Mit aller Klarheit und Entschiedenheit halte ich fest: Kirchlich betrachtet ist der Kult tot.“ Mit diesen deutlichen Worten erteilt Bischof Manfred Scheuer allen Initiativen rund um den Kult des „Anderl von Rinn“ eine Absage. In einem Schreiben bekräftigt der Bischof das Verbot des Kultes, das „nach vielen Diskussionen, Bildungsveranstaltungen und klarer Verteidigung der eingeschlagenen Linie“ im Jahr 1994 von Bischof Dr. Reinhold Stecher ausgesprochen wurde. Hin und wieder gebe es Privatinitiativen, die den Anschein erwecken könnten, der Anderlkult sei immer noch lebendig, so der Bischof. Diese Privatinitiativen „stellen sich eindeutig außerhalb der kirchlichen Gemeinschaft“. Bischof Scheuer: „Niemals hat die Kirche von Innsbruck auch nur einen Anschein gegeben, als ob sie solche kleine Privatinitiativen auf irgendeine Weise gutheißen würde.“
Das Konzil als Wendepunkt.
In seinem Schreiben erinnert Bischof Scheuer an die vor 50 Jahren beim Zweiten Vatikanischen Konzil veröffentlichte Erklärung „Nostra aetate“ über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen. Mit diesem Dokument habe „die Katholische Kirche ihre jahrhundertelang gepflegte negative Haltung zum Judentum“ beendet, so Scheuer. Der Bischof verweist auch auf den mangelnden Widerstand gegen den nationalsozialistischen Antijudaismus. Dieser sei auch deshalb so schwach gewesen, weil „ein über Jahrhunderte hin wirksamer christlicher Antijudaismus eine weit verbreitete Antipathie gegen Juden begünstigt hat“. Auch die Jahrhunderte lang gepflegte Wallfahrt zum Anderl von Rinn habe in Tirol zu dieser Mentalitätsbildung beigetragen, so der Bischof.
Falsche Tradition aufgarbeitet.
Mit der vor 30 Jahren getroffenen Entscheidung von Bischof Reinhold Stecher zur Beseitigung des Kultes habe ein Prozess der Aufarbeitung falscher und verletzender Traditionen begonnen, so Scheuer. Bereits Bischof Paulus Rusch habe im Jahr 1953 Anderl aus dem Tiroler Kirchenkalender gestrichen. 1985 wurden die Gebeine des angeblichen Opfers eines jüdischen Ritualmordes auf Geheiß von Bischof Stecher aus dem Altar entfernt und in der Seitenmauer der Kirche beigesetzt. Das Deckenfresko wurde übermalt und Gedenktafeln angebracht, die über die falsche Tradition informieren. 1989 nimmt Bischof Stecher die Umwandlung des Patroziniums der Kirche in „Mariä Heimsuchung“ (2. Juli) vor. 1994 wird das Dekret zur Beendigung des Kultes des „Seligen Anderle von Rinn“ im Verordnungsblatt der Diözese veröffentlicht. 

 

Hintergrund
Die Ritualmordlegende und der Kult um das „Anderle von Rinn“ reichen zurück in das
17. Jahrhundert. Im Jahr 1619 hat der Leibarzt des Haller Damenstifts, Hippolyt Guarinoni, von einem in der Rinner Kirche beigesetzten Kind erfahren, das in der Mitte des 15. Jahrhunderts von Juden ermordet worden sein soll. Der Mediziner forscht nach, spricht mit Bewohnern und konstruiert dabei die Legende, wonach jüdische Kaufleute den zweieinhalbjährigen Buben Andreas Oxner von dessen Paten gekauft und bestialisch ermordet haben sollen. Zum Vorbild nimmt sich Guarinoni dabei die ähnlich gelagerte Legende des „Simon von Trient“. Die Legende vom Ritualmord verbreitet sich vor allem in Tirol und die Verehrung des „seligen Anderl von Rinn“ geht in die Volksfrömmigkeit ein. Dazu tragen wesentlich auch ein Volkslied, Gebete und die „Anderlespiele“ bei, die seit der Mitte des 17. Jahrhunderts in mehreren Ortschaften aufgeführt werden. Die letzte Aufführung der Anderle-Spiele erfolgte in Rinn im Sommer 1954. 

Einen ersten, erfolgloser Versuch, den Kult zu beenden, startete im Jahr 1910 der Innsbrucker Rabbiner Josef Sagher. Er wandte sich an den Papst mit der Bitte, die 30-teilige Illustration des Ritualmordes in der Kirche in Judenstein entfernen zu lassen. Ein Umdenken erfolgte erst nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges und mit der Veröffentlichung des Konzilsdokuments „Nostra aetate“, mit dem die Kirche jeglichen Antisemitismus verurteilt. 20 Jahre später kündigt Bischof Reinhold Stecher in einer Predigt mit großer Entschlossenheit die Beendigung des Kultes an. Ihren Abschluss findet sein Bemühen am 2. Juli 1994 mit der Veröffentlichung des Dekrets im Verordnungsblatt der Diözese Innsbruck.

(Dieser Bericht erschien im Tiroler Sonntag vom 9. Juli 2015)

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