Erfahrungen mit dem Sterben

Viele Jahre war Elisabeth Wiesmüller (65) in der Tiroler Lokal- und Landespolitik tätig. Heute ist sie im Vorstand der Tiroler Hospiz Gemeinschaft und in der Begleitung von sterbenden Menschen tätig. Für den Tiroler Sonntag schreibt sie von von Bit...

Viele Jahre war Dr.in Elisabeth Wiesmüller (65) in der Tiroler Lokal- und Landespolitik tätig. Nach dem Ausscheiden aus der Politik hat sich die Erwachsenenbildnerin der Hospizarbeit verschrieben. Heute ist sie im Vorstand der Tiroler Hospiz Gemeinschaft und in der Begleitung von sterbenden Menschen tätig. Für den Tiroler Sonntag schreibt sie von von Bitterkeit und kleinen Freuden, und wie die Tätigkeit bei der Hospiz Gemeinschaft ihr Leben bereichert. Allen danke ich, über die ich nun erzählen darf: Für alle Gespräche, die endlosen detaillierten, die stockenden, bruchstückhaften und für das Schweigen. Tief hat es sich mir eingeprägt, dass sie mir Mitfreude durch ihren Blick angeboten haben und mir doch nicht die Bitterkeit um ihren Mund vorenthielten. Kränkung und Streit, deren Zeugin ich wurde, forderten mich sehr, so wie  mich jedes Bemühen um großzügige Akzeptanz und Versöhnung tief bewegte. Die Begegnungen mit den Agnostikerinnen, den ringenden Philosophen, den Religionsverächtern, mit den sterbenskranken Menschen und ihren Angehörigen, die auf ein Wiedersehen in der Ewigkeit hoffen, mit den durch das Leid leer Gewordenen haben mich ermutigt, mich auf Unbeweisbares einzulassen: Bilder, die Urvertrauen atmen. 
Die Namen Gottes. In mir haben die vielfältigsten Namen Gottes Platz gefunden – auch in den Menschen, die ich begleitet habe.  „Gott ist die Natur und die Natur ist Gott“, sagte Herr S. einen Tag vor seinem Tod. „Mein größter Wunsch ist das Nirwana“, sagte Frau K. und eine alte Dame tröstete die Vorstellung des Hineinwachsens in eine sich selber und das Göttliche erkennende Vollendung. Durch Schatten und Bilder zur Wahrheit. Mein Vater wählte einen lateinischen Spruch von Kardinal Newman für die Tafel am Grab, der übersetzt heißt: „Durch Schatten und Bilder zur Wahrheit.“ Das war für ihn, den Philosophen, die große Sehnsucht und das Ziel, die letzte Erkenntnis.  Meiner Mutter, einer tief religiösen, gebildeten, streng katholisch praktizierenden, bescheidenen Frau blieb in den Tagen vor ihrem Sterben nichts zum Trost, geschweige denn irgendeine Hoffnung. Diese Gottesferne mitzuerleben machte mich einerseits hilflos, weitete aber andererseits meinen Horizont. 
Die Gottverlassenheit Jesu. Die Gottverlassenheit Jesu am Kreuz findet sich auch heute an vielen Orten. In den Gesprächen mit sterbenskranken Menschen, im privaten Umfeld und in meiner Tätigkeit als vom Hospiz entsandte „mobile Ehrenamtliche“ erfuhr ich neben viel Bitterkeit auch viele Geschichten vom Glück, vom Erfülltsein, „Himmlisches“. Frau E. erzählte von der unerwarteten Möglichkeit in ihrer Jugend, die Handelsschule zu besuchen, deren erfolgreiche Absolvierung ihr einen guten Arbeitsplatz in einem Büro ermöglichte: Glückliche, anstrengende und bedankte Jahre – „eine gelungene Arbeitslebensgemeinschaft“, bemerkte sie scherzhaft. Herr L., der viel Düsteres durchleiden musste, wiederholte immer wieder die Geschichte vom Krippenbaukurs und seine tiefe Freude, als er beschloss drei seiner Krippenberge als „privates Vermächtnis“ an geschätzte Menschen in seinem Dorf zu verschenken. Frau M. fesselte mich mit satirischen Urlaubsgeschichten aus dem familiären Sommerhäuschen am Ufer eines Sees im Salzkammergut. „Damals, als ich noch jung und sehr hübsch war.“ Meist endeten ihre Erzählungen mit einem wehmütigen Eingeständnis, dass sie nun wohl zu schwach sei, um das hohe Gras dort noch zu schneiden.  
Die letzten Sternstunden. Immer wieder bewegt mich das Vertrauen, das zwischen G. und mir wachsen konnte, wenngleich wir aus sehr verschiedenen Welten kamen. Fast vollkommen bewegungsunfähig, hielt er mit einem  mit den Augen zu steuernden Sprachcomputer öffentliche Vorträge über seinen Umgang mit der Krankheit ALS und  sprach von seinen letzten Sternstunden: Die Motorradtour mit Freunden nach Italien. Hinaufgehoben auf seine Maschine  –  noch ein Mal die Tachonadel fast bis zum Anschlag … 
Tante Mitzis Gugelhupf. Selbst bei meiner Taufpatin Tante Mitzi, die gequält war von einer angsterfüllten Religiosität, lag ein Lächeln auf ihren Lippen, als sie mir auf der Pflegestation des Altenwohnheims von ihrer kulinarischen Erfindung in Kriegszeiten, dem „Schmittenhöhgugelhupf“, berichtete. Sie hielt sich für die „kommende Herrlichkeit“ nicht würdig genug. Voll Wehmut denke ich an meinen Studienfreund P. – an unseren unstillbaren Lachanfall bei einer Lateinübung an der Universität. Wir wurden des Raumes verwiesen. Er nahm sich Jahre später in großer seelischer Verzweiflung das Leben. Das Leben auf Erden. Heute kam mir, auf der Suche nach dem Text des Liedes „Von guten Mächten wunderbar geborgen“, ein Satz aus einem Brief von Dietrich Bonhoeffer vom 27. Juni 1944 unter: „Die christliche Auferstehungshoffnung unterscheidet sich von der mythologischen darin, dass sie den Menschen in ganz neuer Weise an sein Leben auf Erden verweist.“ (Widerstand und Ergebung. Gütersloh 1983, S.167) Über diesen Satz werde ich immer wieder neu nachdenken müssen. Und über die befreiende Option, die ich habe, mein Leben daran zu orientieren.  

Elisabeth Wiesmüller arbeitet im Vorstand der Tiroler Hospiz Gemeinschaft und als ehrenamtliche Begleiterin im mobilen Hospizteam.

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Tiroler Sonntag - Aktuell