Das Letzte Abendmahl

Eine Betrachtung über das Meisterwerk von Leonardo da Vinci vom Kulturhistoriker und Theologen Tibor Lichtfuss.

Um dieses Bild richtig zu verstehen, ist es wichtig, seine Lage im Raum zu beachten: Es bedeckt die Stirnwand des Speisesaales. Dieser Speisesaal ist rechteckig. Die Mönche saßen an langen Tischen entlang der beiden Längswände, und zwar mit den Gesichtern zur Saalmitte gerichtet. Der Tisch des Priors und der übrigen Klostervorsteher stand vor der einen Schmalseite; die Vorgesetzten saßen ebenfalls der Wand entlang mit dem Gesicht zur Mitte des Raumes. So bildeten also die Tische der Mönche eine Hufeisenform. Der Auftrag, den Leonardo erfüllen sollte, war, an der Wand gegenüber dem Tisch des Priors den Abendmahlstisch darzustellen, an dem die Personen in gleicher Weise nur an einer Seite des Tisches sitzen sollten, Christus dem Prior, die Apostel der Klostervorstehung gegenüber.Zwei Jahre Arbeit. Leider hat Leonardo bei der Ausführung des Gemäldes neue farbtechnische Mittel erprobt, die sich als unzulänglich erwiesen: Die Farbe bröckelte schon zu Lebzeiten des Künstlers immer mehr ab und das Abendmahl war in Gefahr, vollständig zugrunde zu gehen. Der Meister hat zwei Jahre lang daran gearbeitet.Dieses wunderbare Bild musste im Laufe der Zeit viel durchmachen: Zwei Jahre nach seiner Fertigstellung besetzen die Franzosen Mailand und machen aus dem Refektorium einen Pferdestall. Sie brechen sogar unter der Bildmitte eine Tür durch. Gabriele d’Annunzio hat eine lange „Ode auf den Verfall eines Meisterwerkes“ geschrieben: „O ihr Dichter... der Gipfel der Kunst... das sichtbare Zeichen des Unsterblichen stirbt... es vergeht und wird nicht mehr... es verfinstert sich in die ewige Nacht“. Ein Bombentreffer während des Zweiten Weltkriegs in den Garten des Klosters verursacht schließlich noch größeren Schaden. Dass dieses Meisterwerk heute wiederhergestellt ist, erscheint uns fast als Wunder.Seltener Höhepunkt. Das „Letzte Abendmahl“ bedeutet in der gesamten Geschichte der Malerei einen selten erreichten Höhepunkt. Es ist sicherlich eines der durchdachtesten Bilder, die je gemalt wurden. Auf den ersten Blick erkennt man als zentrale Gestalt Christus, um den die Apostel in Dreiergruppen dargestellt sind. Der Raum ist streng perspektivisch geordnet, die Gestalten jedoch sind dieser stark betonten Fluchtlinie nicht unterworfen. Diese und ähnliche Dispositionen, die vielleicht gegen so manches starre Gesetz der offiziellen Malerregeln der Zeit verstießen, waren für Leonardo wenig wichtig. Ihm geht es vor allem um das, was er „cosa mentale“, die Angelegenheit des Geistes, nennt. Er stellt die Psychologie in den Dienst der Malerei. Die Gestalten sind nicht nur perspektivisch weniger betont, sie sind auch überdimensioniert dargestellt, wenn man ihr Verhältnis zum Raum betrachtet. Jede Figur ist für sich behandelt, sagt etwas Eigenes aus.Man liest bei Matteo Bandello, dass Leonardo oft mehrere Tage lang mit der Arbeit aussetzte, um sich von Zeit zu Zeit vor seinem Werk einzufinden und dort nur nachzudenken. Das kleinste Detail war für ihn von größter Wichtigkeit und musste wohl überlegt werden.Ein Blick auf den Abendmahlstisch lässt uns erkennen, dass das Brot noch ungeteilt ist. Der Augenblick, da das jüdische Passah-Fest zur christlichen Eucharistie werden wird, steht also unmittelbar bevor. Leonardo wählte aber nicht dieses sich geradezu anbietende Geschehen zum Thema. Nicht die Einsetzung des göttlichen Sakramentes sollte sein Hauptgegenstand werden, sondern der Augenblick des menschlichen Dramas – des Verrats. Christus hat soeben die Worte gesprochen: „Einer unter euch wird mich verraten.“ Das Bild zeigt uns die Reaktion der Apostel: Im Augenblick der Preisgebung des Geheimnisses, das nur Christus und Judas kennen, drückt die Physiognomie der Apostel Überraschung, Empörung und Trauer aus. Dass Leonardo bei den heftigen Gesten, die diese Gefühle begleiten, das Temperament seines eigenen Volkes in die Gestaltung einbezogen hat, ist deutlich sichtbar. Er spricht den Betrachter „in seiner eigenen Sprache“ an.Aufzeichnungen des Meisters. In einem Notizbuch Leonardos finden wir einzelne Aufzeichnungen, die der Meister über die Apostel machte, wie etwa: „Einer, der sich eben anschickt zu trinken, lässt das Glas in seiner Lage und wendet sich dem Sprecher zu“ – ein anderer flüstert seinem Nachbarn etwas ins Ohr“ – гein anderer stützt die Hände auf den Tisch und schaut“ – u.a.m. So finden wir zehn Aufzeichnungen, von denen manche dann allerdings nicht oder nur zum Teil eingehalten wurden.Betrachten wir zuerst die beiden Gruppen an den zwei Enden des Tisches: Am linken Ende (vom Betrachter aus gesehen) erscheint als erster Bartholomäus. Er ist aufgesprungen und horcht gespannt, was da folgen wird. Seine Haltung „eröffnet" das Bild, dessen Strömung über die anderen Apostel in Bewegung kommt und sich zur Hauptgestalt Christi hin steigert. Dort trifft diese Strömung mit der Bewegung zusammen, die vom anderen Tischende, von Simon ausgeht. In der stark kontrastierenden Ruhe Christi hören beide Bewegungen auf. Neben Bartholomäus steht Jakobus der Ältere; er greift mit seiner Linken hinüber zur nächsten Gruppe und berührt die Schulter des Petrus, wodurch eine Verbindung zu dieser Gruppe entsteht. Andreas ist entsetzt und hebt beide Hände abweisend  vor seine Brust. Am anderen Tischende sitzt Simon, der von hier aus durch seinen Blick die Bewegung zur Mitte hin beginnt. Die nächsten, der bärtige Judas Thaddäus und Matthäus, drücken ihre heftige Überraschung durch Gebärden aus, die das tiefe psychologische Erfassen der malerischen Beziehungen Leonardos verraten: Beide neigen sich zu Simon, also eigentlich von der Mitte weg. Der Blick des Thaddäus aber sowie die ausgestreckten Arme des Matthäus zur Mitte hin machen aus dieser Wendung nach außen einen um so stärkeren Zug nach innen; dabei stellt die Geste des Matthäus auch noch die Verbindung zur nächsten Gruppe her.Erster Beweger alles Bewegten. Die Gruppe, die zur Linken Christi zu sehen ist, zeigt uns zunächst Philippus, stehend, beide Hände an die Brust führend. Goethe legt ihm die Worte in den Mund: „Herr, ich bin’s nicht, Du weißt es...“ Er verkörpert die Liebe, während der nächste, Jakobus der Jüngere, den Glauben darstellt. Er, der „Bruder Christi“ genannt wird (Gal. 1,19), also mit Christus „verwandt“ ist, hat ähnliche Züge und auch eine ähnliche Reaktion: Wie Christus legt er die Hände auseinander, nur bedeutet dies bei ihm eine Reaktion, bei Christus hingegen die vollzogene Aktion seiner Aussage. Thomas schließlich, mit dem erhobenen Finger, überlegt: Er steht für die Vernunft da.Auf der anderen Seite, zur Rechten Christi, sitzt Johannes, der Lieblingsjünger. Er verkörpert das vollkommen Gute im Bild, so wie Judas, der neben ihm sitzt und den Beutel hält, das vollkommen Böse bedeutet. Die Parallelität der Linien ihrer Köpfe und ihrer linken Arme lässt dieses Nebeneinander von Gut und Böse noch betonter erscheinen. Wie ein Gegenstoß wirkt in diese Komposition, sich zwischen Gut und Böse gleichsam hineindrängend, Petrus, die Gerechtigkeit Judas erscheint mitten in der ganzen Gesellschaft allein, sein Gesicht ist beschattet, er ist der einzige, der das Geheimnis Christi kennt. Johannes neigt seinen Kopf Petrus zu, der ihm etwas zuflüstert; die Gerechtigkeit ermutigt das Gute.Dazwischen, in der Mitte der ganzen Gruppe und des Bildes, erscheint wie ein großer Einsamer Christus. Er ist in diesem Augenblick allein und allen gleich fern. Für ihn gibt es weder die Freunde, noch Gutes oder Böses, er kennt jetzt nur den Willen des Vaters. Die Reaktionen seiner Jünger sind bei jedem auf sich selbst bezogen; seine Reaktion ist auf den Vater ausgerichtet. Die Bewegung, die dieser unbewegliche Christus in die Jünger gebracht hat, erinnert uns an die Worte Leonardos: „O, du erster Beweger alles Bewegten!“(...)

Der Text ist entnommen dem Buch von Tibor Lichtfuss, „Weges des Geistes”; Erstmals erschienen in „Der Volksbote“, 21. März 1964; Zwischentitel von der Redaktion. 

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Das Letzte Abendmahl