Herr, lehre mich die Kunst der kleinen Schritte

Die Fastenzeit kann bewusst machen, wie notwendig es ist, vor uns liegende Aufgaben und Herausforderungen anzugehen. Das „Heute“ oder das „Jetzt“ sind ganz entscheidende Stichworte unseres Alltags.

Papst Johannes XXIII. beginnt in seinen Tagebuchaufzeichnungen, bekannt als „Dekalog der Gelassenheit“, seine ganz persönlichen Vorsätze immer wieder mit dem Satz „Nur für heute“ und nennt dann die verschiedenen Aspekte und Aufgaben, zu denen er sich verpflichtet. Und am Ende schreibt er: „Ich will mich nicht entmutigen lassen durch den Gedanken, ich müsste dies alles mein ganzes Leben lang durchhalten, aber heute ist es mir gegeben, das Gute während zwölf Stunden zu tun“.

 

Stichwort voller Verzerrungen. Die Fastenzeit ist ein Stichwort, das mit vielen Vorurteilen, Verzerrungen und Klischees belastet ist. Da gibt es den Vorwurf des Formalismus, der starren Regeln, die den Buchstaben, nicht so sehr den Geist pflegen. Verpönt ist etwa auch das Wort „Selbstbeherrschung“. Aber ist es überflüssig? 

Andererseits scheint die allgegenwärtige Spaßkultur mit viel Ablenkung und Zerstreuung uns auf Dauer mehr zu schaden als zu nützen. So gilt es als gesichertes Ergebnis vieler wissenschaftlichen Untersuchungen, dass derjenige, der von klein auf lernt, sich zu beherrschen und seine Bedürfnisse zu kontrollieren, besser durchs Leben kommt als Kinder, denen jeder Wunsch sofort erfüllt wird. Dies ist der Befund von Langzeitstudien, die den Entwicklungsgang vom Säugling bis zum über Dreißigjährigen begleitet und untersucht haben. 

Geringe Selbstkontrolle führt tendenziell zu schlechteren schulischen wie beruflichen Leistungen, zu höherer Wahrscheinlichkeit von Suchtverhalten, vermehrter Abhängigkeit von Drogen, Tabak, Alkohol, zu größeren Gesundheitsproblemen, zu Arbeitslosigkeit, ja Kriminalität. Wer hingegen schon sehr früh lernt, seine Wünsche und Triebe zu kontrollieren, ihre Befriedigung aufzuschieben, hat später weniger Schwierigkeiten im Leben. Er geht besser mit Herausforderungen wie Schicksalsschlägen um. Und das gilt wohl nicht nur für Kinder. 

Wenn am Beginn der Fastenzeit die Kirche solch eindeutige Thesen vertreten würde, könnte man natürlich leicht sagen: typisch!  Aber: sollten wir den Forschungsergebnissen der Wissenschaft vielleicht doch Glauben schenken? 

 

Der erste Schritt. Das zweite Stichwort: „Morgen“ illustriert ein Thema, das nicht nur in der Fastenzeit, sondern eigentlich immer durchaus „aktuell“ ist. In einem Lied der bekannten österreichischen Band „Erste Allgemeine Verunsicherung“ heißt es: „Doch morgen, ja morgen, fang’ ich ein neues Leben an! Und wenn net morgen, dann übermorgen oder zumindest irgendwann fang ich wieder ein neues Leben an!“ Jeder weiß, dass dieses Morgen eigentlich ein Nie ist, der Sanktnimmerleinstag. Das Lied gehört nicht nur wegen der sehr eingängigen Melodie zu den bekanntesten Liedern der Band, sondern auch, weil der Text ein den meisten Menschen doch sehr bekanntes Lebensgefühl widerspiegelt: Das, was ansteht, aber unbequem ist, auf den nächsten Tag zu verschieben; oder es so groß und überdimensioniert zu planen, dass der erste Schritt nie gewagt wird und die Übersicht fehlt, wie der erste Schritt aussehen kann. Dabei ist der erste Schritt der wichtigste – mag er auch noch so klein sein – da mit ihm der Stillstand überwunden wird und zugleich die Richtung der weiteren Schritte vorgegeben wird. Das gilt für alle Bereiche des menschlichen Lebens. 

 

Der Mut zum Heute. Von Teresa von Avila stammt der provokante Satz: „Wer nicht wächst, schrumpft!“ Und wir dürfen mit Antoine de Saint-Exupéry bitten: „Ich bitte nicht um Wunder und Visionen, Herr, sondern um die Kraft für den Alltag. Lehre mich die Kunst der kleinen Schritte.“ Vielleicht ist das wirklich die Chance – und das nicht nur in der Fastenzeit: nicht immer wieder so manches „Morgen“ vor uns herzuschieben, sondern auch den Mut für viele „Heute!“ zu finden.

 

Ein Beitrag von Bernhard Hippler im Tiroler Sonntag vom 28. März 2019
Hippler war von 1979 bis 2015 Universitätspfarrer in Innsbruck 

Johannes XXIII. war ein Meister in der Kunst, kleine Schritte zu tun, die Großes bewirkt haben. Foto: KNA